Trotz Corona-Krise verzichtete Cannes heuer nicht ganz auf seine 73. Ausgabe. Statt Trophäen vergab das Festival aber Gütesiegel. Eines davon ging an Oskar Roehlers „Enfant terrible“, eine Verbeugung des Regisseurs vor der exzentrischen deutschen Filmikone Rainer Werner Fassbinder. Jetzt eröffnete der Streifen das Filmfest Hamburg und kommt am 2. Oktober in die österreichischen Kinos. Die Fassbinder-Rolle verkörpert Oliver Masucci, der nach einer langen Theaterkarriere (unter anderem Salzburger Festspiele 1999 und 2007, Wiener Burgtheater 2009 bis 2015) nun auf dem Weg zum international gefragten Filmstar ist.

Fassbinder zu spielen, war für Sie gewiss nicht nur eine große Herausforderung, sondern wohl auch eine gewaltige – physische und psychische – Anstrengung?
OLIVER MASUCCI: Ja, aber zunächst wollte mich keiner außer Oskar Roehler.

Das hat sicher auch mit Ihrem Alter zu tun. Sie sind heute 51, Fassbinder starb mit 37?
Zu Beginn des Films ist Fassbinder sogar erst 24. Trotzdem kommt er einem ziemlich alt vor, weil er zuvor schon sehr viel und intensiv gelebt hatte. Deshalb hatte Roehler keine Bedenken, mich zu besetzen.

Alles in allem, kann man sagen, war diese Aufgabe für Sie aber sicher wie ein Drahtseilakt ohne Netz. So mussten Sie beispielsweise 25 Kilo zunehmen?
Ich habe mich ein halbes Jahr lang in die Rolle „eingegessen“, um Fassbinders Fülle zu kriegen. Mein Vater stammt aus Neapel, Frühstück waren wir zu Hause nicht gewohnt. Für diesen Film habe ich nicht nur angefangen, zu frühstücken, sondern habe morgens auch zwei, drei Weizenbier getrunken, damit sich mein Bauch langsam aufblähte und noch dicker wurde. Gefilmt haben wir dann alle unter kompletter Überforderung. Geplant waren 55 Drehtage und 8,5 Millionen Euro Budget. Gekriegt haben wir aber von den Geldgebern am Ende nur 2,9 Millionen, das reichte gerade für 24, 25 Drehtage. Aber so, muss ich sagen, entsteht oft echte Kunst. Oskar Roehler hat alles, selbst die geplanten Außenszenen, im Kölner Studio gemacht und eine ganz persönliche Form entwickelt. Profan sah alles ein bisschen aus wie die „Sesamstraße“, doch Kamera und Beleuchtung haben einen ganz eigenen Kunstraum entstehen lassen. Und plötzlich passte alles, was sich Roehler ausdachte, wunderbar. Dabei hatte er immer wieder Angst, dass ihm der Film entgleiten würde.

   Mit dem er ob der Umstände fast ins Fahrwasser des echten Rainer Werner Fassbinder geriet?

So kann man es sehen. Und es gab auch andere Ähnlichkeiten. Desirée Nick zum Beispiel versetzte in einer Szene ihrem Kollegen Lucas Gregorowicz auf Anordnung von Oskar wirklich 28 ordentliche Ohrfeigen, hat sich dabei fast die Hand verstaucht. Ihr hat Lucas so leid getan, sie hat sich so geschämt, wollte sich nach jeder Ohrfeige entschuldigen.

   Bei Ihnen kam in der Gestaltung des exzentrischen Fassbinder auch die psychische Seite dazu?

Der Mann war ja so extrem, dass ich ihn bei den Vorbereitungen sehr lange von mir weghalten wollte. Ich hatte Angst, mich seiner Monsterhaftigkeit zu nähern, und anfangs war er mir wahnsinnig unsympathisch. Also habe ich sehr spät angefangen, in seine Persönlichkeit reinzutauchen. Das war ungeheuer anstrengend. Ich habe in meine Gestaltung alle Despoten der Kunst, die ich kennen lernte, reingepackt, alle Theaterregisseure mit Riesenego, alle Traumtänzer, die die Welt verändern wollten. Ich spielte sie sozusagen alle zusammen. Von Empathie bis zum tiefsten Schmerz. Ja, Fassbinder hat ordentlich ausgeteilt, aber auch eingesteckt. Da gab es so viele Emotionen zwischen Liebe und Menschenverachtung. Er hat viele in seiner Umgebung von sich abhängig gemacht, und als er das erreicht hatte, haben sie ihn nicht mehr interessiert. Manchmal dachte ich: Mein Gott, welch ein Arschloch. Aber so einfach war das nicht.

   Allein, wenn man die Sterbeszene sieht, hat man das Gefühl, dass Sie sich total verausgabt haben?

Da gab es einen Moment, wo ich den Arm hochgerissen habe, weil ich wirklich das Gefühl hatte, einen Herzinfarkt zu kriegen. Ich konnte auf einmal nicht mehr spielen, habe gejapst und gejauchzt. Und ich musste sogar heulen. Diese Sterbeszene am Ende war, rückblickend, auch meine schönste, weil ich nicht mehr weiterspielen hätte können. Das hätte mich umgebracht. Ich war an meinen Grenzen angelangt.

Oskar Roehler und Oliver Mastucci am Set
Oskar Roehler und Oliver Mastucci am Set © (c) ab-bild.de

   Ihre neueste Filmrolle ist auch nicht ohne: In Philipp Stölzls neuer Version der „Schachnovelle“ verkörpern Sie die Rolle des Dr. Josef Bartok. Können Sie Schach spielen?

Ja, und deshalb verstehe ich auch besser, warum dieser Charakter fast wahnsinnig wird. Und diese Rolle ist natürlich ebenfalls sehr anstrengend. Ich musste zum Beispiel alle Züge auswendig lernen und sie in einem Riesentempo aufsagen. Da bin ich selbst fast wahnsinnig geworden. Wir wurden Gott sein Dank vor dem Corona-Lockdown fertig, der Film kommt Anfang 2021 in die Kinos.

Sie sind in Salzburg aufgetreten, waren am Burgtheater engagiert. Was hat das für Sie bedeutet?

Sehr viel. Ich, das Gastarbeiterkind, bei den Salzburger Festspielen und an der Burg. Das war schon etwas Besonderes.

   Heute ist das Theater nicht mehr Zentralpunkt Ihres Lebens, das ist der Film geworden?

An Film hatte ich früher nie gedacht, es gab ja keine Rollen für mich, ein Typ wie ich war nicht gefragt. Also kam ich ans Theater, habe zu den großen Schauspielern aufgeschaut, habe 30 Jahre auf der Bühne verbracht und dort alles gelernt. Jetzt schöpfe ich daraus und versuche, es auf die Kamera zu übertragen. Der Tapetenwechsel hat mir offensichtlich gut getan. Während meiner ganzen Theaterlaufbahn habe ich nie so viele unterschiedliche Sachen gespielt wie jetzt. Ich habe mittlerweile in zwei Millionen-Produktionen in England mitgewirkt, und durch die Netflix-Serie „Dark“ zum Beispiel, die weltweit verkauft wurde, habe ich heute in Südamerika wahrscheinlich mehr Fans als in Deutschland. Meine Fresse – pardon: mein Gesicht – kommt heute auf der großen Leinwand offensichtlich sehr gut an.