Die Geschichten auf der Leinwand transportieren einen heuer am Lido weit weg vom sommerlichen Strand und all den Masken des Jahres 2020. Etwa ins viktorianische London im Filmporträt „Miss Marx” über die Tochter des bärtigen sozialistischen Vordenkers Karl Marx. Eleanor kämpfte den Klassenkampf ihres Vaters auch als Frauenrechtlerin weiter. Regisseurin Susanna Nicchiarelli erzählt in ihrem Film leider sehr wenig über das öffentliche Leben und Wirken von Eleanor Marx. Der Großteil des Geschichte dreht sich um die Männer-Beziehung der intellektuellen weiblichen Protagonistin zum Hallodri-Schriftsteller Edward. Im großteils bürgerlichen Leben der Marxistin und Frauenrechtlerin, das der Film erzählt, liegt eine Ironie, mit der Nicchiarelli wenig anzufangen weiß. Übrig bleibt ein Kostümdrama, das zumindest die historische Figur in Erinnerung ruft, ihr aber wenig Interessantes abgewinnt. Da helfen auch Punk-Musik-Einsprengsel im gediegen viktorianischen Setting wenig.


Das intensive Drama „The World To Come” von Mona Fastvold spielt ebenfalls im 19. Jahrhundert. Im Zentrum steht die ruhige Abigail (Katherine Waterston), die mit ihrem Mann (Casey Affleck) eine Farm im entlegenen Massachusetts betreibt. Seit dem Tod ihrer kleinen Tochter führt sie eine Art Tagebuch, das als literarische Stimme aus dem Off durch den Film leitet, fast wie bei Terrence Malick.

Gleich in zwei Filmen im Wettbewerb vertreten: Vanessa Kirby
Gleich in zwei Filmen im Wettbewerb vertreten: Vanessa Kirby © AFP


Doch dann übernimmt die charismatische Tallie die Nachbarfarm. Vanessa Kirby hat hier ihrer zweiten, ungleich feineren dramatischen Auftritt im Wettbewerb von Venedig nach „Pieces of a Woman”. Trotz der hilflosen Kontrolle der beiden Ehemänner entspinnt sich zwischen den beiden Frauen eine Beziehung, die schnell zur heimlichen Liebe wird. In ihren besten Momenten erinnert die Romanverfilmung dabei an den großartigen Film „Porträt einer jungen Frau in Flammen”, besonders im Zusammenspiel der Intimität mit der wilden Landschaft, die der Film in Rumänien inszenierte.


Auch in der Reihe Orizzonti bringt das Festival von Venedig frische Geschichten auf die Leinwand. In „La Nuit de Roi” wirft Regisseur Philippe Lacôte sein Publikum mitten in das Gefängnis La Maca von Côte D’Ivoire, in dem einst seine Mutter inhaftiert war, wie er im Filmgespräch erzählte. Statt Sozialrealismus strickt er seinen Film in afrikanischer Erzähltradition eines Griot rund um einen jungen Geschichtenerzähler, der seine Mitgefangenen wie Scheherazade eine Nacht lang aus der Welt des Gefängnis entführt. Hier entspringt der Konflikt aus der unerträglichen Nähe des Gefängnisses.


Doch manchmal schickt auch die Welt draußen wieder ein Lebenszeichen ins Kino – mit einem Wolkenbruch in der Lagune von Venedig und einem Donnergrollen als Soundtrack genau passend zum intimen Höhepunkt des Films.