Mit „Lillian“ erzählen Sie ein Roadmovie nach der wahren Geschichte von der in die USA emigrierten Russin Lillian Alling, die in den 1920ern zu Fuß nach Hause gehen wollte – quer über den Kontinent –, dort aber nie angekommen ist. Wie sind Sie auf diese Geschichte aufmerksam geworden?
Andreas Horvath: Das war purer Zufall. Ich war 2004 bei einem Filmfestival in Montreal und habe beschlossen, Freunde in Toronto zu besuchen. Ein Freund dieser Freunde ist gerade aus Alaska zurückgekehrt. Er hat dort in einem kleinen Heimatmuseum die Geschichte von Lillian Alling erfahren. Viel mehr Information gab es damals nicht. Inzwischen gibt es einige Bücher über sie, fiktionale und Sachbücher, und sogar eine Oper.


Gab es ein Drehbuch?
Nein. Es gab ein ausführliches Treatment, aber kein Drehbuch. Genau so ist es mir von Anfang an vorgeschwebt: dass man eben nicht versucht, mehr Hintergründe zu erfahren, sondern dass man das Ganze heute stattfinden lässt, dass es ein Spielfilm werden soll, der dokumentarisch gedreht wird.


Ihre Protagonistin spricht nur ein Wort, ein „Njet“. Die Kamera folgt ihr auf dem Weg von New York Richtung Westen. Was hat Sie denn an der Figur gereizt?
Beim Casting konnten sich alle potenziellen Darstellerinen damit identifizieren, wegzugehen. Ich sehe sie als kindliche Naive, die oft unbewusst handelt. Dann ist sie aber auch wieder sehr entschlossen, sodass man sich fragt: Hat sie dieses Ziel oder hat sie mit ihrem Leben abgeschlossen und kann jetzt alles ausprobieren? Oder hat sie eine psychische Erkrankung, eine dissoziative Fugue, die Menschen oft veranlasst, unerwartet wegzugehen? Die Idee des Weggehens, das Impulsive, das Negieren von Logik, aber auch der eigenwillige Zugang zu Geografie, das hat mich als Erstes gereizt.


Sind Sie schon einmal einfach so weggegangen?
Nein, nichts Vergleichbares. Aber wenn ich zum Beispiel auf Filmfestivals bin, führt mein Weg mich nicht unbedingt zuerst ins Kino, sondern durch die Stadt, zu Fuß und ohne Karte.


Die polnische Performerin Patrycja Planik verkörpert Lillian. Wo haben Sie sie entdeckt?
Es haben sich über 700 Frauen beworben. Ich habe nicht alle persönlich getroffen, aber mir jede Bewerbung genau angesehen. Eigentlich hat meine Frau sie dann zufällig in einem Lokal in Warschau entdeckt. Sie ist eine Idealbesetzung. Sie hat ein ambivalentes Gesicht, wirkt verletzlich, aber auch resolut. Das changiert ständig und das war genau das, wonach ich gesucht habe. Viele Ideen sind von ihr gekommen: für Szenen, Kostüme, Requisiten.


Warum haben Sie sich für Wortkargheit entschieden?
Die echte Lillian Alling hat auch kaum gesprochen, ich denke, dass sie unter dem Radar bleiben wollte, um ihre Unternehmung nicht zu gefährden. Als Filmemacher glaube ich, dass man auf andere Dinge achtet, wenn der Dialog wegfällt.


Sie haben 2016 im Wahlkampfjahr gedreht. Wie haben Sie Amerika zu dem Zeitpunkt erlebt?
Die religiösen Botschaften und Schilder sind natürlich zeitlos, aber ich wollte die Tagespolitik bewusst draußen lassen. Sobald man den Mississippi überquert, ist man in einer anderen Welt, wo die Leute mehr Zeit haben. Der Sheriff ist auch in echt ein Sheriff. Er hat die Straße abgesperrt und gleichzeitig gespielt.