Die Nuklearkatastrophe von Tschernobyl wird fast auf den Tag genau 31 Jahre her sein, wenn mit Pol Cruchtens "Tschernobyl - Eine Chronik der Zukunft" am Freitag ein schwergewichtiger Essay dazu in den österreichischen Kinos startet. Die Verfilmung von Swetlana Alexijewitschs literarischen Collagen aus Interviews mit Opfern und Hinterbliebenen aus 1997 ist vor allem eine Hommage an das Buch.

2015 wurde der Weißrussin Alexijewitsch als erster reiner Journalistin im Jahr 2015 die wichtigste Literaturauszeichnung der Welt zuerkannt. Nicht nur die Nobelpreisjury war beeindruckt davon, wie ein Dokument zu Literatur wird, ein nüchternes Interview zu eindringlicher Prosa, wenn eine Autorin ein so radikales Gespür für die Wahl der Geschichten und ihre Anordnung mitbringt, eine solche Empathie und Offenheit für das, was man in Osteuropa damals einfach nur vergessen wollte. Ein "vielstimmiges Werk", so die Jury. Viele Stimmen, sehr unterschiedliche, und doch eine einzige Geschichte.

Aus dem Kraftwerk

Auch der luxemburgische Regisseur Pol Cruchten sagt, er habe sofort nach Erscheinen der Übersetzung gewusst, dass er dieses Buch verfilmen wolle - nur habe er noch nicht gewusst, wie. Einige Filme später, pünktlich zum 30. Jahrestag und in luxemburgisch-österreichischer Koproduktion, hat er den Weg gefunden. Er reiste nach Tschernobyl und nahm dort klare, fast geometrische Bilder auf, vom Kraftwerk, von den Wohnblöcken, von verlassenen Häusern und bröckelndem Putz, vom Wald, vom Fluss. Kombinierte sie mit stummen symbolischen Schlüsselszenen, von Schauspielern dargestellt. Nackte, gekrümmte Körper. Ein totes Mädchen. Eine Witwe, die ins Meer rennt.

Sie illustrieren einen Text, der ausschließlich als Voice-over zum Klingen kommt, getreu dem Original. Narration auf der Bildebene passiert nur in Andeutungen und Metaphern. Zu jedem der verbalen Zeugnisse, gelesen von französischen Schauspielern, bieten sie sich gleichsam als assoziatives Gerüst an. Dabei stellt sich der Grat zwischen Willkür und Überfrachtung, zwischen Symbolkraft und Banalität als schmal heraus. Wie Alexijewitsch aus Interviews Literatur zu machen verstand, will Cruchten aus seiner Doku das künstlerische Pendant skulptieren. Aber es ist das Handicap des Bildes gegenüber dem Wort: Es nutzt sich schneller ab, gerade wenn es schwer wird.

Schleichende Krankheiten

Ehemalige Militärs, nie getröstete Witwen, Eltern kranker Kinder, Entscheidungsträger, Wissenschafter: Sie alle erzählen von Tschernobyl. Von den schicksalhaften Tagen, als der Reaktor brannte, von den Aufräumarbeiten und ihren vielen unbekannten Helden, vor allem aber vom Leben danach. Von schleichenden Krankheiten, vom Dahinsiechen ganzer Freundeskreise über den Lauf einiger Jahre, von der Geburt kranker Kinder, vom Kampf um Anerkennung des Leidens, der Spätfolgen, die eine ganze Generation zeichnen, vom Tod, vom Tod, vom Tod.

Das Buch wurde geschrieben gegen das Vergessen. Und 31 Jahre nach Tschernobyl, sechs Jahre nach Fukushima, ist das Vergessen immer nah, genährt von den anderen, tagesaktuellen Tragödien. Pol Cruchten und sein Film haben dem Vergessen eine Atempause geschenkt. Der Film, bereits vielfach im Festivalreigen gezeigt und ausgezeichnet (aktuell ist er etwa beim Crossing Europe-Festival zu sehen), war unter anderem Luxemburgs Beitrag zum Oscar-Rennen. Aber so verdienstvoll dieses Ansinnen ist und so ambitioniert die Erzählweise - der Vorbehalt, aus einer realen Katastrophe ästhetisches Kapital zu schlagen, will bei dieser stets auf das Poetische schielenden Doku nicht recht verstummen.