Das wäre ein Jubel gewesen, hätte er denn sein dürfen. Die Wiener Staatsoper spielt erstmals Hans Werner Henzes 1990 uraufgeführte Oper „Das verratene Meer“ vor leerem Haus, also nur für den Live-Stream. Dem Sog dieses schauerlichen Mord-Kammerspiels in der packenden Umsetzung von Simone Young, Jossi Wieler, Sergio Morabito und einem atemberaubend guten Sängerensemble hätte sich wohl niemand entziehen können.  

Es ist eine grauenhafte Geschichte, die der exzentrische japanische Schriftsteller Yukio Mishima erzählt. Eine Bande 13-jähriger, die sich unter der Fuchtel ihres Anführers bemühen, jedes Gefühl abzutöten, bis sie auch vor Mord nicht mehr zurückzuschrecken, übt sich an Katzen und wartet auf die Chance, ihre Härte an Menschen auszuprobieren. Als die Mutter eines Bandenmitglieds sich in einen Seemann verliebt und heiraten will, verurteilt die Bande den Mann zum Tod und lockt ihn in eine Falle. Hier endet die Novelle und auch die Oper. Der Rest bleibt der Phantasie überlassen.

Der Grund für den Mord erschließt sich dem Leser des Buches besser als in dem Opernbesucher. Die auch Mishima vertraute Obsession mit Größe, Ruhm, Mut und Kraft verdüstert die Geister der Kinder. Die Normalwelt eines Mannes, der aus Liebe die Seefahrerei aufgibt um ein schlichtes Familienleben zu führen, wird für sie zur empörenden Aufgabe alles dessen, was sie für allein lebenswert empfinden. Dass sich hinter den großen Worten auch ödipale Gefühle Noborus für seine Mutter verbergen, zeigt die Wiener Produktion deutlich.  

Das elementare Hauptereignis aber ist Henzes wüst-sinnlicher Musikorkan. Das Staatsopernorchester verbindet die Brutalität der stampfenden perkussiven Passagen mit hinreißend lyrischen Momenten. Der Aufeinanderprall zweier Lebenswelten und Weltbilder, den der Text nur behaupten kann, wird im Orchestergraben fast zwei Stunden lang Ereignis.

Die Geschichte erzählen die Meisterregisseure Jossi Wieler und Sergio Morabito  mit Sängern, das aus ihren Bühnenfiguren lebendige Menschen zu formen verstehen. Bo Skovhus, ein Sängerschauspieler wie es wenige gibt, spielt und singt Ryuji, den enttäuschten Seemann und enttäuschenden Stiefvater. Vera-Lotte Boecker, die nun zum Staatsopern-Ensemble gehört, identifiziert sich mit Ryujis großer Liebe Fusako in einer Intensität, die auf Opernbühnen selten zu erleben ist. Und Josh Lovell, der sein 13. Lebensjahr seiner Figur Noboru schon hinter sich hat, gelingt es trotzdem, Pubertät über die Rampe zu bringen. Die vier Kumpane, die das Leben Noborus mit ihrer finsteren Gedankenwelt verdüstern, sind fast ständig präsent und schließen den klaustrophobischen Zirkel dieses Werks. Dazu hat Anna Viebrock, die mit Wieler & Morabito seit 25 Jahren arbeitet, ein kongeniales Einheitsbühnenbild gebaut. Es kann Schiff, Boutique, Wohnzimmer und Mordort gleichzeitig darstellen – eine seltene Kunst.

Nicht versäumen - vorerst nur auf https://play.wiener-staatsoper.at