Feuertrunken! Was für ein Wort! In der deutschen Sprache ist es bis zum späten 18. Jahrhundert unbekannt, und das legendäre Grimm'sche Wörterbuch verzeichnet nur zwei Fundstellen: In einer Novelle von Friedrich Müller, auch Maler Müller genannt, ist von einer "feuertrunknen Seele" die Rede, und in Friedrich Schillers "Ode An die Freude" betreten wir "feuertrunken" das Heiligtum dieser Tochter aus Elysium. So sparsam also dieser Neologismus verwendet wurde, so groß ist der Assoziationsreichtum, den er auszulösen vermag. Da wir bei diesem Begriff Schillers Verse so im Ohr haben, wie es uns vor allem Beethovens Vertonung dieses Gedichts in seiner 9. Symphonie nahelegt, tendieren wir dazu, dieses "feuertrunken" mit gehörigem Pathos aufzuladen. Das Feuer kann dann die lodernde Flamme der Leidenschaft oder der Freiheit sein, es ist die innere Glut, die Begeisterung, der Enthusiasmus, der uns antreibt, die Welt zu verbessern und der Humanität zum Durchbruch zu verhelfen, es ist ein züngelndes, ekstatisches Knistern, das unsere innere Bewegtheit markiert, es ist die wärmende Kraft, die wir der Kälte einer nüchternen Welt entgegensetzen, es ist das prometheische Feuer des Trotzes, des Widerstandes, der Rebellion. Wir kennen die reinigende Kraft des Feuers, von der die Katholiken ebenso schwärmten wie Karl Marx. Schon seltener denken wir aber daran, dass das Feuer eine verzehrende Gewalt darstellen und sich zu einem verheerenden Flächenbrand entwickeln kann, dass eine unkontrollierte Flamme so wie eine unkontrollierte Leidenschaft mit zerstörerischer Wucht Landschaften und Menschen heimsuchen kann. Und vergessen wir nicht: Wer mit dem Feuer, in welcher Gestalt auch immer, unliebsame Erfahrungen machte, bleibt als gebranntes Kind zurück. Die aggressive Eigenschaft des Feuers hat sich der Beethoven-Verehrer Richard Wagner zu eigen gemacht, wenn er in seinem "Feuerzauber" im dritten Aufzug der "Walküre" Wotan einen Feuerring um Brünnhilde legen lässt, Gefängnis und Schutz in einem. Dass man mit dem Feuer nicht spielen sollte, ist eine Mahnung, die manche im Überschwang der Feuertrunkenheit gerne vergessen.

Das Trinklied eines 26-Jährigen

Etwas anders aber stellt sich dieses wunderbare Wort "feuertrunken" dar, wenn wir es ein wenig in seinem Entstehungskontext betrachten. Schiller schrieb die 9-strophige "Ode An die Freude", die er übrigens für nicht besonders gelungen hielt, im Herbst des Jahres 1785, noch nicht einmal 26 Jahre alt, animiert durch eine Zeit intensiv erlebter Freundschaften. Höhepunkt war ein geselliges Trinkgelage am 13. September, bei dem Schiller die Freunde aufforderte, die schon mehrmals geleerten Rotweingläser auf dem Steinboden mit dem Ruf "Keine Trennung! keiner allein! sei uns ein gemeinsamer  Untergang beschieden" zu zerschmettern. Hören wir hier schon das "Alle Menschen werden Brüder" heraus? Auch wenn es uns heute fast despektierlich erscheinen mag: Schillers Ode An die Freude war ein emphatisches Trinklied, Schillers Spitzname war nicht umsonst "Trinker" gewesen, und das "feuertrunken" bezeichnet weniger das Feuer der Rebellion, das den taumelnden Freunden durch die Seelen geronnen sein mag, als vielmehr das Brennen des Alkohols, der durch ihre Kehlen floss. Von einem nicht ganz so großen Nachfahren Schillers habe ich schon als Kind gelernt, dass die nordamerikanischen Indianer den Branntwein der Weißen "Feuerwasser" nannten. Damit sind wir beim harten Kern unseres "feuertrunken": Manch eine Flüssigkeit, die wir trinken, brennt dann tatsächlich wie Feuer, auch wenn mit Ausnahme der professionellen Feuerschlucker fast niemand von uns weiß, wie sich Feuer in der Kehle anfühlt. Dass Schiller diesem ersten Impuls, trotz der ekstatischen Überhöhung dieses Geschehens, in seiner Ode treu geblieben war, verrät eine Strophe, die Beethoven wohlweislich – oder leider – nicht vertont hatte:

Freude sprudelt in Pokalen,

In der Traube goldnem Blut

Trinken Sanftmut Kannibalen,

Die Verzweiflung Heldenmut – –

Brüder, fliegt von euren Sitzen,

Wenn der volle Römer kreist,

Laßt den Schaum zum Himmel sprützen:

Dieses Glas dem guten Geist.


Ja, es ist eine Beschwörung der rauschhaften Freude. Die im Vormärz entstandene Legende, dass Schiller nicht "Freude", sondern "Freiheit" geschrieben und sich nur der Zensur gebeugt hätte, hält einer genauen Überprüfung nicht stand. Es ist schon jene Freude gemeint, die sich in einem ekstatischen Rausch einstellt, der bis vor kurzem dazu führte, dass sich wildfremde Menschen weinselig umarmen und sich mit tiefem Blick ihrer Bruderschaft versichern. Schiller, und das macht den Trinker wieder groß, entfaltet aus dieser feuertrunkenen Berauschung tatsächlich ein Menschheitsprogramm, das weiß, dass in dieser Freude, in dieser Begeisterung eine umfassende Humanität liegen kann, eine Entgrenzung des Einzelnen, ein Miteinander, das keine sozialen Grenzen und Schranken mehr kennt. Diese Freude, und nur sie, führt zusammen, was die Mode, die Konventionen der sozialen Ordnungen, modern formuliert: die Identitätspolitik streng – in der ersten Fassung steht noch: mit dem Schwert – getrennt hat. Nur in diesem feuertrunkenen Rausch öffnet sich unser Herz allen Menschen,

Friedrich Nietzsche hörte den 4. Satz von Beethovens 9. Symphonie mit Recht noch als überdimensioniertes Trinklied. Der Philosoph schreibt in seinem frühen Hauptwerk Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik: "Man verwandele das Beethoven’sche Jubellied der 'Freude' in ein Gemälde und bleibe mit seiner Einbildungskraft nicht zurück, wenn die Millionen schauervoll in den Staub sinken: so kann man sich dem Dionysischen nähern." Dionysos, der Gott des Weines und des Rausches, verkörperte nach Nietzsche jenes ästhetische Prinzip, das Menschen in kollektive, selbstvergessene Ekstasen und die Kunst zu ihren entfesselten, alle Grenzen sprengenden Aktionen führen kann. Nicht das Rauschmittel, die dionysische Kunst, die Musik, wird jetzt zum Quell der unbändigen Freude, zu jenem Fest der sinnlichen Ergriffenheit, das uns zur Humanität beflügelt. Aber entsprach dies auch Beethovens Intention?

Was Beethoven an Schillers Text fasziniert hatte, lässt sich relativ leicht erschließen: Beethoven litt unter der Restauration und dem Neo-Absolutismus der Metternich-Ära, und Schillers das Pathos der Menschheitsverbrüderung verkündende Ode An die Freude schien durchaus geeignet, einen politischen Kontrapunkt zu den herrschenden Verhältnissen zu liefern. Die ungestüme Freude, die Lust am Leben, die Ekstase und der Rausch haben in der Tat eine subversive Kraft. Gerade die moderne Verbotsgesellschaft, die im Namen der Moral und politischen Korrektheit alles untersagen möchte, was in einem existentiellen Sinn Freude bereitet und nicht nur Ausdruck einer normierten Unterhaltungs- und Spaßgesellschaft ist, weiß davon ein Lied zu singen.

Ideologisches Spekulationsobjekt

Beethovens Symphonie aber wurde nicht zuletzt wegen des Schillerschen Textes zu einem ideologischen Spekulationsobjekt ersten Ranges. Aus der langen Reihe der weltanschaulichen Instrumentalisierungen und Vergewaltigungen der 9. Symphonie seien lediglich einige Beispiele zitiert. Als Richard Wagner nach einer von ihm dirigierten Aufführung der 9. Symphonie im Revolutionsjahr 1848 auch auf den Barrikaden zu finden war, hat ihm jemand zugerufen: "Nun, Herr Kapellmeister, der Freude schöner Götterfunken hat gezündet." Die Ode An die Freude war offensichtlich als revolutionäres Fanal verstanden worden, eine Deutung, vor der auch das 20. Jahrhundert nicht gefeit war: "Und wenn dieser gewaltige Hymnus an die Freude aufbraust, muß jeder klassenbewußte Arbeiter sich sagen können: Diese Töne werden erst recht uns gehören, wenn wir über die jetzt herrschende Klasse gesiegt haben werden." Dies schrieb Hanns Eisler, selbst Komponist und Schüler von Arnold Schönberg, zum 100. Todestag Beethovens im Jahre 1927 in Die rote Fahne, dem Zentralorgan der Kommunistischen Partei Deutschlands. Die 9. Symphonie als Kraft- und Freudenspender für Weltrevolutionäre also, als Triumphmarsch des Klassenkampfs. Und auch wenn den Nationalsozialsten die Eroica und die 5. Symphonie als Werke des von ihnen konstruierten deutschen "Titanen" Beethoven lieber waren, hatten sie keine Schwierigkeiten mit dem ideologischen Missbrauch der 9. Symphonie. Anlässlich einer von Wilhelm Furtwängler dirigierten Aufführung am 19. April 1942, am Vorabend von Hitlers Geburtstag, nannte sie Joseph Goebbels "die heroischste Titanenmusik, die je einem faustischen deutschen Herzen entströmte". Die Versuche, die Ode An die Freude solchen Vereinnahmungen durch ein verbrecherisches Regime zu entreißen und ihre  Idee der Freiheit und Menschlichkeit politisch wieder zu rehabilitieren, mündeten in dem Entschluss Leonard Bernsteins, nach dem Mauerfall bei zwei von ihm dirigierten Aufführungen der 9. Symphonie in Berlin die "Freude" im Text durch die "Freiheit" zu ersetzen: "Freiheit, schöner Götterfunken". Aus Schillers Trinklied war nun im Wortlaut jene Freiheitshymne geworden,  zu der die zweifelhafte Erhebung des Hauptthemas des Chorfinales zur Europahymne es ohnehin schon gemacht hatte. Seit den entsprechenden Beschlüssen des Europarates und der EU hören wir, wenn wir Beethovens umstrittenes Hauptwerk hören, eine politische Hymne – eigentlich ein unerträglicher Gedanke auch dann, wenn die besten Absichten damit verbunden sein mögen. Dazu kommt, dass die Europahymne, die doch das Feuer für die europäische Idee entfachen will, ohne den Schillerschen Neologismus "feuertrunken" auskommen muss. Denn sie ist – was wenige wissen – eine Hymne ohne Text. Wohl wurde Beethovens eingängige Melodie wegen des humanen Programms des zugrundeliegenden Gedichts erkoren, aber die Sprachenpolitik der EU erlaubte es nicht, den deutschen Text beizubehalten. Nur heimlich dürfen wir beim Abspielen der Hymne die Verse mitsummen, Europa selbst muss ohne Schillers Worte, also ohne Geist und Begeisterung auskommen.

Durch diese politischen Vereinnahmungen sind wir leider gewohnt, Beethovens Neunte in Hinblick auf den 4. Satz, auf die Ode An die Freude zu hören; doch nur im Zusammenhang des Ganzen gewinnt dieser seine Funktion und Bedeutung. Erst nach dem Durchgang durch den von Rhythmus und Dynamik bestimmten ersten Satz, den Richard Wagner einmal als "trotzigen Kampf der um Freude ringenden Seele gegen einen übermächtigen Feind" beschrieben hat, erst nach dem plebejisch frechen Scherzo, zu dem Beethoven durch das Gezirp der Spatzen vor seinem Fenster inspiriert worden sein soll, erst nach dem gedehnten, nicht allzu erhabenen Ton des Adagios des 3. Satzes gewinnt das Presto, mit dem der Finalsatz ansetzt, seine ganze Kraft. Überfallsartig beginnt dieser mit jener von Beethoven selbst so genannten "Schreckensfanfare", die den verzweifelten Realzustand einer chaotischen Welt markiert, gegen die mit Schiller die Freude als Quell einer menschlichen Ordnung beschworen wird. Entscheidend ist der Zusammenprall zweier Welten, und es ist das Wort, das der Musik – die an dieser Stelle zumindest von den Zeitgenossen durchaus als hässlich empfunden worden war – gleichsam ins Wort fällt.

Beethoven hat nicht einfach Schillers Ode vertont, sondern diese Vertonung dramaturgisch höchst spannungsreich eingesetzt. Die Ode An die Freude ist kein für sich stehendes Programm, sondern eine Antwort, eine Reaktion auf eine düstere musikalische Diagnose. Das Rezitativ, das vom reinen Instrumentalsatz zu den menschlichen Stimmen überleitet, war Beethoven deshalb besonders wichtig. Er experimentierte unter anderem mit folgenden Formulierungen: "Heute ist ein feierlicher Tag, meine Freunde, dieser sei gefeiert durch Gesang und Scherz"; oder: "O nein, dieses nicht, etwas anderes ist es, was ich fordere ... ich werde sehen, daß ich selbst euch etwas vorsinge"; oder: "Lasst uns das Lied des unsterblichen Schiller singen", und dann: "Nicht diese Töne! Fröhlichere! Freude! Freude!", aus dem schließlich das endgültige: "O Freunde, nicht diese Töne! Sondern laßt uns angenehmere anstimmen und freudenvollere" wurde.

"Seid umschlungen, Millionen"

Beethoven hat nur wenige Strophen von Schillers Trinklied vertont. In der Verkürzung werden jene Motive sichtbar, die auch den 4. Satz konturieren: die Beschwörung der Freude als Götterfunke, als verbindende und schaffende Kraft und das "Seid umschlungen, Millionen", das sich als Ideal der Menschengemeinschaft lesen lässt. Allerdings: Beethoven setzt noch einen Akzent: Den Vater, der überm Sternenzelt wohnen "muß" und der dem Einspruch gegen die Schreckenstöne seinen transzendenten Sinn gibt. Das "Muß" ist aber weniger als logische Notwendigkeit zu lesen, als vielmehr als ein moralisches Postulat, eine fast verzweifelte Forderung. In der Philosophie hat diese Forderung nach Gott einen prominenten Ort: Immanuel Kant. Und Beethoven war sich dessen bewusst. Im Umfeld zu Skizzen zur 9. Symphonie hat er sich einen berühmten Satz des Königsberger Philosophen notiert: "das Moralische Gesetz in unß, u. der gestirnte Himmel über unß" erfüllen uns mit Ehrfurcht. Gott war für Kant ein Postulat der praktischen Vernunft: Sie fordert den Richter überm Sternenzelt, damit Moral auf dieser Erde möglich ist. Theodor Adorno hat einmal bemerkt, dass das Freude-Thema der 9. Symphonie das "Unheimliche des beschwörenden Zauberspruchs" hat. Die feuertrunkene Begeisterung erweist sich dann doch auch als Variante eines Feuerzaubers.

Feuertrunken. Begeisterung. Humanität. Diesen Kuss der ganzen Welt! Der ganzen? Nein. Schillers Ode kennt sehr wohl Menschen, die aus diesem Bund des Miteinander ausgeschlossen sind:

Wem der große Wurf gelungen,

Eines Freundes Freund zu sein;

Wer ein holdes Weib errungen,

Mische seinen Jubel ein!

Ja – wer auch nur eine Seele

Sein nennt auf dem Erdenrund!

Und wers nie gekonnt, der stehle

Weinend sich aus diesem Bund!

Die Lust der Gemeinschaft, die Freuden der kollektiven Ekstasen, die feuchtfröhlichen Freundesrunden kennen keine Einsamen, keine Außenseiter, keine Melancholiker, keine Unglücklichen. Diese werden verbannt. Auch die feuertrunkene Freude kann in eine eisige Kälte umschlagen. Jean Paul, der große Romancier und Humorist, Zeitgenosse Schillers und ebenfalls ein großer Trinker, hat dies gespürt und angemerkt, er würde einem Bund, der dieser Maxime folgte, den Rücken kehren. Poetischer und menschlicher, so Jean Paul feinfühlig, wäre es gewesen zu schreiben: "Und wers nie gekonnt, der stehle weinend sich in unsern Bund!" Denn die "liebeswarme Brust will im Freudenfeuer eine arme erkältete sich andrücken". Zu dieser Humanität, die den Freudlosen in die Freude miteinschließt, die dem Einsamen eine Heimat bietet, die den, der nicht mitfeiern kann, aus der fröhlichen Runde nicht verbannt, war der junge Schiller nicht fähig gewesen. Diese Hoffnung Jean Pauls einzulösen bleibt eine Aufgabe, die diese Ode, dieser feuertrunkene Gesang bis auf weiteres an uns stellt. Daran sollten wir vielleicht denken, wenn wir uns an Beethovens 9. Symphonie im Abschlusskonzert dieses Carinthischen Sommers berauschen werden.