Kein obligater Orchesteraufschrei. Erst fast Dunkelheit. Dann Zykadensymphonie aus Lautsprechern. Dann der Auftritt von Klytämnestra, die in einem gesprochenen Prolog den Mord an Agamemnon röchelnd ins Mikrophon gesteht: „Als Leichnam dieser Hand erlegen…“

Ungewöhnlicher Auftakt zu einer ungewöhnlichen Saison. Die Salzburger Festspiele, heuer 100 Jahre alt, mussten ja coronabedingt ihr gesamtes Programm total umkrempeln und kräftig reduzieren. Die „Elektra“ von Richard Strauss, wie sie am Samstag zur Eröffnung des Festivals ihre Premiere feierte, stand aber auch schon auf der ursprünglichen Agenda des Jubiläumssommers.

Die Zuhörerinnen und Zuhörer, wegen der Pandemie zum „Maskenball“ gezwungen, konnten eine heftig umjubelte Premiere erleben. Unter ihnen auch Bundespräsident Alexander Van der Bellen mit seiner Frau Doris Schmidauer, Schauspielerin Sunnyi Melles, Galerist Thaddaeus Ropac, die Medienmanger Hans Mahr und Alexander Wrabetz oder Peter Handke. Das Werk „Zdeněk Adamec“ des Literaturnobelpreisträgers erlebt ja am Sonntag im Salzburger Landestheater seine Uraufführung, aber wegen des halbierten Platzangebots wurde das Stück schon Samstagabend den zahlreich erschienenen Kritikern aus österreichischen und internationalen Feuilletons präsentiert.

Familienaufstellung im Hause Agamemnon. So in etwa hatte Krzysztof Warlikowski das antike Drama mit dem hoch poetischen Text von Festivalgründer Hugo von Hofmannstahl angelegt, das in einer Badeanstalt mit echtem Wasser und Duschen sowie in einem modernen Kubus/Käfig spielt (Bühne und Kostüme: Małgorzata Szczęśniak). Der polnische Regisseur unterstreicht, wie die Mutter Klytämnestra, deren ältere Tochter Elektra und die jüngere Tochter Chrysothemis mit sich und miteinander ringen, woher ihre Träume und Albträume rühren und weshalb ihre Leben auf dem Kopf stehen, nachdem Ägisth  - nur im Bett ein Held - mit der ihm erlegenen Frau des Agamemnon die Familienbande einstürzen und das Blut fließen hat lassen.

Das Bühnenbild für die Salzburger "Elektra" lieferte Małgorzata Szczęśniak
Das Bühnenbild für die Salzburger "Elektra" lieferte Małgorzata Szczęśniak © APA/GINDL

Warlikowski wollte Elektra nicht bloß als Racheengel für ihren Vater zeigen, sondern als Schmerzensfrau, der das Unrecht fast das dornenumrankte Herz ausreißt. In Aušrinė Stundytė hat er eine großartige Sängerschauspielerin dafür zur Verfügung. Die Litauerin, die in Köln lebt, bewies bei ihrem Festspieldebüt, dass ihr zurecht ein hervorragender Ruf vorauseilt. Mit großer Wucht im Furor, aber auch mit feinem Sinn für Verletzlichkeit stellt die 44-jährige Sopranistin eine an der Welt Zweifelnde und Verzweifelte dar, ein zornesrotes, aber in Wahrheit fragiles Mädchen, das der finale Racheakt dann doch vom unerwartet auftauchenden Orest abgenommen wird - imposant und mächtig, aber auch als letztlich gebrochene Figur gibt Derek Welton den jungen Bruder, der einst als Kind außer Landes in Sicherheit gebracht wurde, um zum Rächer seines Vaters erzogen zu werden.

Neben Mezzosopranistin Tanja Ariane Baumgartner, die der von ihrer eigenen Tat zerrissenen Klytämnestra ein markantes Profil verleiht, brilliert vor allem auch Asmik Grigorian, die vor zwei Jahren als Salome einen Festspieltriumph feierte. Die Landsfrau Stundytės macht mit ihrem Fünf-Sterne-Sopran auch aus der kleineren Rolle der Chrysothemis eine prägende Partie. Auch der Rest des insgesamt 16-köpfigen Solistenensembles um den kernigen Michael Laurenz als Ägisth garantiert stimmlich wie darstellerisch Festspielniveau.

Im Graben sorgt Franz Welser-Möst nach der „Salome“ 2018 erneut für eine tiefe Verbeugung vor Richard Strauss. Der hatte für die „Elektra“ nicht bloß eine Partitur, sondern vielmehr ein Psychogramm zu allen Figuren geliefert. Die Komposition ist jedenfalls voll Wut und Aufbrausen, Derbheit und Lyrik, lauter Klage und stiller Hoffnung. Für die hier wie vorgeschrieben riesig besetzten Wiener Philharmoniker ist Strauss ja  fast immer quasi ein "Heimspiel", die an Farben, Wendungen und Überraschungen reiche Tragödie, 1909 in Dresden uraufgeführt,reiche Tragödie von 1909 stellt aber auch sie vor echte Herausforderungen.

Eindrucksvoll bestanden. Denn Welser-Möst, demnächst 60, tariert das an harmonische Grenzen gehende Klanggetürm von Strauss, zu dem in Salzburg auch die Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor (Einstudierung: Ernst Raffelsberger) beiträgt, fein aus - speziell, wenn zum Grande Finale die schon bei der "Salome" geschlossenen Arkaden der Felsenreitschule als Film-Projektionsfläche dienen. Hier für riesige Blutspritzer, auf denen sich nach und nach Fliegen und Ameisen tummeln und in einen Strudel verlieren. Wie wir uns und andere oft verlieren vielleicht, in den Wirbeln der Welt...