Wenn es für den Spruch "Not macht erfinderisch" noch eines Beweises bedurft hätte, dann haben ihn die Salzburger Festspiele bei ihrer Entstehung vor 100 Jahren erbracht. In ihrer Geburtsstunde am 22. August 1920 wurde ein Stück aufgeführt, das ursprünglich genau so wenig geplant war wie der Aufführungsort: der "Jedermann" auf dem Domplatz, inzwischen Tradition, ja Kult und Cashcow des Festivals.

Als Auftakt der Festspiele hatte Festival-Mitbegründer Max Reinhardt eigentlich das "Halleiner Weihnachtsspiel" in der Franziskanerkirche im Winter 1919 vorgesehen. Der Segen des Erzbischofs dazu war erteilt, aber das Staatsamt für Volksernährung lehnte die Bitte nach Zuweisung von Lebensmitteln und Heizmaterial für die Mitwirkenden ab. Mit anderen Worten: Die Verpflegung der Künstler konnte so kurz nach dem Krieg nicht gewährleistet werden. Also wurde die Geburtsstunde in die zweite Augusthälfte 1920 verlegt.

Und auch hier kam der "Jedermann" von Hugo von Hofmannsthal erst spät ins Spiel, weil ein anderes Werk nicht rechtzeitig fertig wurde. Die Geschichtsbücher nennen heute unterschiedliche Angaben, um welches Werk es sich dabei gehandelt hatte. Auch beim Aufführungsort war Improvisation angesagt: Vorgesehen für den "Jedermann" war die offene Reitschule (Felsenreitschule) der früheren Fürsterzbischöfe, doch das Material für ein Bühnenbild war nicht aufzutreiben. Sehr kurzfristig wurde daher der Domplatz zum Thema: Nur einen Monat vor Beginn der Vorstellungen ersuchte Reinhardt den Erzbischof, das Geviert vor dem Dom zu bespielen und "die Glocken, Orgelspiel und die Domfassade dramaturgisch" einzubinden.

In Berlin noch fast durchgefallen, schlug das Läuterungsspiel vor dieser Kulisse von Anfang an voll ein. "Zurzeit, da diese Zeilen geschrieben werden, steht noch ganz Salzburg unter dem starken Eindrucke des großen künstlerischen Ereignisses, dessen Schauplatz unsere Stadt heute war", hieß es in der "Neuen Freien Presse". Das Zusammenwirken aus Wetter, Kirchenglocken, Domorgel, Rufen von Berg, Friedhof und Turm mit dem Schauspiel wurde ein Riesenerfolg. "Sein Geniestreich bestand darin, die Realität und das Theater bis zur Unkenntlichkeit miteinander zu verschmelzen", formulierte es die Kulturpublizistin Monika Mertl.

Und eines galt von Anbeginn: Die Bühne gehört Publikumslieblingen. Die ersten hießen Alexander Moissi als Jedermann und seine Frau Johanna Terwin als Buhlschaft - beide Superstars ihrer Zeit. Der heute noch bestehende Hype um diese Rollen ist also Teil der Salzburger Festspiele seit ihrer Geburtsstunde.

Nach vier Vorstellungen wurden spontan noch zwei Zusatzaufführungen angesetzt, die letzte speziell für die Salzburger Bevölkerung, dann waren die ersten Salzburger Festspiele schon wieder zu Ende. Wirtschaftlich war das erste Jahr erfolgreich: Die Jedermann-Einnahmen betrugen 629.869 Kronen denen Ausgaben von 476.215 Kronen gegenüberstanden. Der gesamte Gewinn von 153.654 Kronen (entspricht laut Währungsrechner der Nationalbank einem heutigen Wert von 15.670 Euro) kam den Salzburger Kriegsinvaliden, -witwen und -waisen, Heimkehrern und der US-amerikanischen Kinderhilfsaktion zugute.

Ein für Salzburg wenig überraschendes Detail zeigt die Chronik aus dem Jahr 1921: Die Bevölkerung lief gegen den "Missbrauch ihrer Glocken" für eine Theateraufführung Sturm, woraufhin der Erzbischof seine im Jahr davor erteilte Genehmigung zum Läuten der Domglocken zurückzog.

Eine ebenso bedeutende Weichenstellung für die Zukunft der Festspiele erfolgte bereits am Vortag der "Jedermann"-Premiere, also am 21. August, auf politischer Ebene: Die Festspielhausgemeinde hielt im Großen Saal der Stiftung Mozarteum eine Generalversammlung ab, bei der das eigene Programm, vor allem der Bau eines Festspielhauses, Thema war. Dieses Programm wurde dabei zum kulturellen Schwerpunkt nicht nur der Stadt, sondern auch des Landes Salzburg und der neuen Republik Österreich erklärt. Die Salzburger Festspiele waren damit keine rein regionale Angelegenheit mehr. Vertreter des Bundes bei der Sitzung war kein Geringerer als der Präsident des Staatsratsdirektoriums Karl Seitz, der bis zur Angelobung des ersten Bundespräsidenten im Dezember 1920 das Staatsoberhaupt war.