Das 21. Jahrhundert neigt sich dem Ende zu, als die Seuche aus dem Osten zuschlägt. Gesellschaften zerfallen, die Menschheit geht unter. „Das Buch zur Pandemie“ sah die deutsche „Zeit“ unlängst in der apokalyptischen Vision dieses Romans. Im Februar ist seine erste deutsche Komplettübersetzung erschienen, ganze 195 Jahre nach der Erstveröffentlichung. Seine Autorin: Mary Shelley. Acht Jahre nach dem Welterfolg ihres „Frankenstein“ veröffentlichte die Britin 1826 „Der letzte Mensch“.

Die zeitgenössischen Kritiken waren verheerend. Dass Shelley erst ganz London und dann den Rest der Welt den Seuchentod sterben ließ, fand man unverzeihlich. Mehr als ein Jahrhundert lang wurde das Buch nicht mehr aufgelegt. Mittlerweile gilt „Der letzte Mensch“ als erste Dystopie der Literaturgeschichte. Mit der Dramatisierung des Werks wird am 16. September die Saison im Grazer Schauspielhaus eröffnet: Alexander Eisenach, der hier bereits Romane wie Virginie Despentes' "Vernon Subutex", Clemens J. Setz’ „Frequenzen“ und Thomas Manns „Der Zauberberg“ auf die Bühne brachte, führt Regie.

Eine Nacherzählung des Romans ist von ihm erfahrungsgemäß nicht zu erwarten. „Der Abend entfernt sich rasch von der Romanhandlung und funktioniert eher als Collage“, verrät Chefdramaturgin Karla Mäder. Auch „Frankenstein“ wird in der schauerromantisch inspirierten Inszenierung eine Rolle spielen, detto Seuchen- und Science-Fiction-Motive – immerhin wird in „Der letzte Mensch“ mit einem gefiederten Schnellballon geflogen. Und: Die Natur wird zum handelnden Element; sogar der Klimawandel klingt an, sagt Mäder.

Es wird gothic: "Der letzte Mensch" am Grazer Schauspielhaus
Es wird gothic: "Der letzte Mensch" am Grazer Schauspielhaus © SSH/Lex Karelly

Nicht, weil Shelley ihn vorausgesehen hätte. Aber angesichts ihrer Zukunftsvision von 1826 müsse man sich 2021 auch mit der eigenen Rolle als „Hoffnungsträger der Vergangenheit“ auseinandersetzen – „und dann geht es bald einmal darum, was der Mensch heute mit seinem Handeln an Schuld auf sich lädt und den nächsten Generationen aufbürdet“.

Für Shelley selbst war „Der letzte Mensch“ übrigens ihr bester Roman. Das mag auch an seiner stark autobiografischen Färbung liegen: Im Ich-Erzähler und „letzten Menschen“ des Titels, Lionel Verney, porträtierte sie sich wohl selbst. Und in zwei seiner Hauptfiguren, dem idealistischen Adrian und dem Freigeist Lord Raymond, setzte sie den Dichtern Percy Bysshe Shelley und Lord Byron ein literarisches Denkmal. Mit Ersterem war sie verheiratet, mit dem Zweiteren unterhielt das Paar eine enge Freundschaft.

Ihr Ehemann und Byron waren beide bereits tot, als Shelley an dem Roman arbeitete. Dass im Text nebst der republikanischen Idee und einer globalen Katastrophe auch freundschaftliche Auseinandersetzungen und amouröse Verwicklungen viel Raum einnehmen, erzählt also auch von den Verlusten, die sie in ihrem Leben hinnehmen musste: Die gebildete, zur Unkonventionalität erzogene Tochter des protoanarchistischen Sozialphilosophen William Godwin und der Feministin Mary Wollstonecraft war mit 27 Witwe, musste nebst Fehlgeburten und Kindstoden finanzielle Probleme, Depressionen, Einsamkeit verkraften. Und dennoch schrieb die Dichterin, die der Nachwelt lange nur als Schöpferin eines unglücklichen Monsters bekannt war, einen Roman, der Genres sprengt, über Staatspolitik, Natur und Beziehungsfragen reflektiert. Als Autorin ließ Shelley die Sphären der Häuslichkeit, in denen Zeitgenossinnen wie Jane Austen oder die Brontë-Schwestern ihre Romane ansiedelten, weit hinter sich. Bemerkenswert ist eigentlich vor allem, dass es fast 200 Jahre und eine Pandemie brauchte, bis das endlich aufgefallen ist.