So überwältigend und so unbedingt ist die Liebe, die da in einer New Yorker Uni-Bibliothek beginnt, dass man gleich Übles fürchtet: Kann das ein gutes Ende nehmen mit den beiden, mit dem Genetiker Eitan und der Historikerin Wahida, sie Araberin, er Jude? Als er seiner Familie eröffnet, dass er Wahida heiraten will, flippt sein frommer Vater David völlig aus: Als Abkömmling von Holocaust-Überlebenden, argumentiert er, habe Eitan die Pflicht, gefälligst den Fortbestand seines Volkes abzusichern.

Mutter und Großvater versuchen zu vermitteln, aber dann entdeckt Eitan im familiären Erbgut ein dunkles Geheimnis, das ihn und Wahida nach Israel führt, zu einer lange verschollenen Großmutter. Viel mehr zu erzählen hieße bereits spoilern; kurz darauf jedenfalls liegt Eitan als eines von vielen Opfern eines Bombenattentats in einem Jerusalemer Spital im Koma, und kaum hat sich die schockierte Familie um sein Krankenbett versammelt, geht es erst richtig rund in diesem ereignis- und wendungsprallen Drama, das sich zutraut, Nahostkonflikt, Shoah, Heimat, Herkunft, Erblast, Religion, Zugehörigkeit in knapp drei Stunden zu verhandeln.

Im Grenzgebiet zwischen Märchen, Thriller und Konversationsstück argumentiert der libanesisch-frankokanadische Autor Wajdi Mouawad in seinem souverän designten Erfolgsstück „Vögel“, dass unsere Identitätskonstrukte genauso brüchig sind wie die Glaubenssätze, an die wir uns im Leben klammern. Im September erlebte „Vögel“ am Wiener Akademietheater die österreichische Erstaufführung – in tragikomischem Glanz: Ingmar Bergman mal Woody Allen.

Am Grazer Schauspielhaus setzt nun Regisseur Sandy Lopičić ganz auf die dramatischen Elemente des Werks und konstruiert eine große Show um große Gefühle; das geht so weit, dass in den Spannungsmomenten Sprechlautstärken und Live-Begleitmusik stets verlässlich zu seifenopernhafter Vehemenz anschwellen. Und doch gelingt Lopičić das Bravourstück, sein Publikum bei der Stange zu halten: durch ein exzellent geführtes Ensemble, das eindringliche Emotionalität und prägnante Menschenbilder liefert.

Da brillieren Katrija Lehmann und Frieder Langenberger als ungelenkes junges Liebespaar Wahida und Eitan, da offenbaren Susanne Konstanze Weber und Mathias Lodd als Elternpaar in ihren schroffen Routinen die typische Mischung aus Zärtlichkeit, Mitgefühl und Anzipf, die für das Verhältnis vieler altgedienter Eheleute prägend ist. Beatrice Frey und Gerhard Balluch ergänzen als von Krieg, Liebe und Lügen zerriebenes Großelternpaar die Generationenporträts. Starke Marginalien liefern Anna Szandtner, Nico Link und Hayder Wahab, der als Phantom des Leo Africanus, eines um 1500 wohl zwangschristianisierten Moslems namens al-Hasan ibn Muhammad al-Wazzan durch das Stück geistert: Totemwesen dieses Häufleins Entwurzelter.

Das alles im hinreißenden, von Viktor Fellegi zauberisch ausgeleuchteten Bühnenbild von Vibeke Andersen: ein übergroßes gläsernes Y-Chromosom fungiert abwechselnd als Bibliothek, Tanztempel, Krankenzimmer und Eiskerker des komatösen Eitan. Berückende Bilder für einen Abend, der unbedingt überwältigen will – und der bei aller zeitweise strapaziösen Hyperintensität letztlich souverän reüssiert.

Vögel. Von Wajdi Mouawad. Schauspielhaus Graz.
Regie: Sandy Lopičić.
Bühne und Kostüme: Vibeke Andersen.
Video: Bahadir Hamdemir.
Licht: Viktor Fellegi.
Dramaturgie: Karla Mäder.
Musik: Raphael Meinhart, Sašenko Prolić, Miloš Milojević.
Termine: 4., 5., 12., 29. Februar; 1., 5., 6., 12., 19. März. www.schauspielhaus-graz.com