Das geht sich natürlich niemals aus: 1200 Romanseiten in einen Theaterabend zu pressen. Nicht einmal, wenn man viereinhalb Stunden dafür Zeit hat. Alexander Eisenach, der in Graz schon mit Clemens Setz’ „Frequenzen“ und Thomas Manns „Der Zauberberg“ Furore machte, tut es trotzdem. Zum Saisonauftakt setzt er am Schauspielhaus Virginie Despentes’ Romantrilogie „Vernon Subutex“ in Szene. Und das ziemlich überzeugend.

Bis „Subutex“ galt die Französin Despentes („Baise-moi“) vor allem als Autorin radikaler Sex-und-Gewalt-Romane. Seit „Subutex“ wird sie als weiblicher Balzac gefeiert, als Schöpferin eines hyperrealistischen Sittengemäldes, das an einer in Paris angesiedelten Randständigenerzählung die menschliche Tragikomödie unserer Tage musterhaft abbildet. Die giftigen Farbtöne auf ihrer Palette: Alltagsrassismus, Genderbashing, häusliche Gewalt, Cybermobbing, Drogensucht, Islamophobie, Vampirkapitalismus. Eisenach baut daraus eines seiner kaleidoskopischen Panoramen: ein rauschhaftes Stimmungsbild, für das Fragmente der Romanhandlung genügen. Im Buch kommt dem lässigen Plattenhändler Vernon Subutex in aushärtenden Zeiten erst der Job, dann die Wohnung abhanden. Als obdachloser DJ bespielt er „Convergences“, Musik- und Tanzevents, mit hinreißenden Sets. Was sein Publikum dermaßen verzückt, dass sich um ihn ein Kult zu bilden beginnt. Parallel dazu jagt halb Paris ein Tonband, das Popstar Alex Bleach seinem Freund Vernon vor seinem Selbstmord überließ und das Aufklärung über den Tod der Pornodarstellerin Vodka Satana verheißt.

All das deutet Eisenach in seinem Abbild einer Gesellschaft in Auflösung nur vage an. Er zeichnet ein dystopisches Wimmelbild im Stil von Brueghel oder Bosch, rückt dafür den 18 (!) Darstellerinnen und Darstellern in ekstatischen Massenszenen mit der Live-Videokamera auf den Leib und stellt Digital- & Drogenjunkies, Kleinverdiener & -kriminelle, Rassisten, Radikalfeministinnen, Fundamentalisten, Sexarbeiterinnen, Sandler zu skatologischen Monologen an die Rampe.

Ein raffiniertes Layering von Motiven, überlebensgroßen Bildern (Bühne: Daniel Wollenzin), Live-Musik, Chorpassagen, Choreografien, Text. Wenn dabei etwa Florian Köhler als kolossal durchgeknalltes Koks-Naserl von einem Börsenmakler zur großen Abrechnung mit der Welt im Allgemeinen und dem Theaterpublikum im Speziellen ansetzt, gibt es hoch verdienten Szenenapplaus.

Die Reihen im anfangs voll besetzten Schauspielhaus sind nach der Pause dennoch deutlich gelichtet. Das ist, auch wenn der Abend seine Längen hat und man die Botschaft von der Bösartigkeit des Kapitals beim ersten Hören auch schon verstanden hätte, schade. Gerade, weil das Ensemble unter Eisenachs präziser Regie Fantastisches leistet: Franz Solar und Katrija Lehmann berühren als Vater und Tochter im Glaubensstreit, Fredrik Jan Hofmann und Julia Gräfner im Rechts-links-Infight mit Tränenschluss, Rudi Widerhofer und Beatrice Frey als Sandlerpaar, Marta Navaridas und Alex Deutinger als Transsexuelle. Als Vernon sorgt „The Base“-Frontman Norbert Wally für exquisite Live-Klänge auf der Bühne und bleibt ansonsten souveräne Projektionsfläche. The party goes on; viel Applaus.

Vernon Subutex. Nach dem Roman von Virginie Despentes. Schauspielhaus Graz.
Nächste Vorstellungen: 2., 9., 11., 19., 24. Oktober, jeweils 19 bis 23.15 Uhr.
www.schauspielhaus-graz.com