Vier Jahre hintereinander mussten die Premieren wetterbedingt im Großen Festspielhaus stattfinden. Gestern fügten sich dagegen Wind und Wetter so perfekt in das Gesamtbild wie Tod und Teufel. Allen Vorhersagen zum Trotz ließ gegen Hälfte des Abends Wetterleuchten zusätzlich Spannung aufkommen, die Läuterung des Jedermann wurde danach von Windstößen begleitet, zu seinem Todeskuss setzte es gar einen kurzen Regenschauer. Dass der Wettergott die bereits fluchtbereiten Premierenbesucher auch noch trocken aufbrechen ließ, ehe er kurz die Himmelsschleusen öffnete, passt zur gottgefälligen Entwicklung der Inszenierung, mit der Michael Sturminger 2017 demonstrativ profan aufgebrochen war und die sich nun fast schon zu demütig zeigt.

Auch Tobias Moretti hat seine Suche noch nicht abgeschlossen. Als grundsätzlich grüblerisch und misanthropisch begann er vor zwei Jahren seine Reise mit dieser Figur, heute sieht Geschäftsmann Jedermann seinen Erfolg ganz nüchtern begründet: Er lässt sein Geld eben am besten arbeiten. Ensemble-Neuzugang Helmut Mooshammer bekommt als armer Nachbar, der sich vor Spielbeginn wie ein Sandler durch die Wartenden drängt und die schick gewandeten Premierengäste irritiert, Jedermanns neue Lust an der Argumentation zu spüren. Selbst wenn er wollte, könne er ihm leider gar nichts vom vielen Geld abgeben, wird ihm vom Ökonomen Jedermann bedauernd beschieden - alles bereits den nächsten Geschäftspartnern versprochen. Und wenn er den Rest seines Vermögens gerecht aufteilen würde, bliebe für jeden genau ein Schein übrig. Überrumpelt steckt der Nachbar die ihm angebotene Banknote ein und zieht ab.

Dass der Businessman bei aller ostentativen scheinbaren Gutherzigkeit bald die Nase voll vom "Gestank der Armut" hat, bekommt der Schuldknecht (Michael Masula ist ein weiterer von insgesamt acht Neuzugängen) böse zu spüren. Doch wirklich Lust an der Erniedrigung anderer hat dieser Jedermann nicht, und brutal wird er ein einziges Mal: Als er seine Buhlschaft, die ihn durch einen innigen Kuss zur Besinnung bringen will, an den Haaren grob zurückreißt. Aber da ist er bereits ein anderer. Was ihn schlagartig so verändert, bleibt weiter ein Rätsel. Konnte man im Jahr eins der Inszenierung noch an eine medizinische Diagnose denken (das fahrbare Krankenhausbett ist wichtiges Requisit geblieben), gewinnt das Geheimnis nun an metaphysischer Tiefe.Ganz von dieser Welt ist dagegen die Buhlschaft. Schon Stefanie Reinsperger zeigte sie erfolgreich als selbstbewusste, moderne Frau. Die Buhlschaft ihrer Nachfolgerin Valery Tscheplanowa kommt offenbar aus dem Künstlermilieu, wie sie in mehreren gekonnten Nummern als Sängerin und Tänzerin unter Beweis stellt. Ihr erster Auftritt ist gewagt - mit dem Rücken zu jedermann und Jedermann, in einem halbtransparenten, weißen Hosenanzug. Ihre durchaus anspruchsvollen Lieder reichen vom Chanson bis zum Brecht-Lied. Bei der Tischgesellschaft führt sie im weit schwingenden, tief ausgeschnittenen roten Kleid souverän das Regiment und amüsiert sich auch ohne ihren Geliebten, der Gespenster zu sehen beginnt. Eine wahrhaft Liebende ist sie, anders als ihre Vorgängerin, nicht. Ihr Abschied vom Todgeweihten fällt ziemlich beiläufig aus. Sein Bedauern darüber hält sich allerdings auch in Grenzen.

Weiter zu den Pluspunkten dieser heuer um ein paar Minuten längeren Aufführung zählen Peter Lohmeyer als schauerlicher Tod in Stöckelschuhen, Edith Clever als Jedermanns Mutter, Mavie Hörbiger als herzzerreißende, magersüchtige Werke und Christoph Franken als goldglänzender Mammon mit Ringer-Statur, der Jedermann fest im Griff hat. Während sich Gregor Bloéb, der als guter Gesell für böse Ironie und als Krampus-Teufel für Schabernack sorgt, Markus Kofler als leicht aufmüpfiger Koch sowie Björn Meyer und Tino Hillebrand, die sich als Dicker und Dünner Vetter mit Blumen und Pralinen von verwandtschaftlichen Verpflichtungen loskaufen wollen, weitgehend in das Bestehende eingefügt haben, erhält der Glaube durch Falk Rockstroh ein ganz anderes Gewicht.

War Johannes Silberschneider ein asketisch wirkender Pilger, ist Rockstroh nun ein strenger, Jedermann die Leviten lesender Gottesmann, der im Duell mit dem Teufel seine Kruzifixe wie Colts zieht. Ganz ohne Augenzwinkern wollte Sturminger sein Glaubensbekenntnis wohl doch nicht abgeben. Der Segen des Publikums wurde danach teilweise stehend erteilt. Absolution war das jedoch noch keine. Die findet möglicherweise zum 100-Jahr-Jubiläum 2020 statt. Und wie sich der Wettergott dazu verhält, kann er sich heuer bis 28. August noch 13 Mal aufs Neue überlegen.