Plastik, das dämmen wir doch gerade ein? Nicht bei Krauses. Im Haus der Unternehmerfamilie ist alles Mobiliar sauber in knisternde Abdeckfolie gepackt; eines Umbaus wegen, heißt es. Vielleicht aber auch grundsätzlich: Alles muss möglichst unberührt bleiben, das hat in Bernd Mottls Inszenierung von Ewald Palmetshofers Hauptmann-ÜberschreibungVor Sonnenaufgang“ auch die familiären Beziehungen schon gut durchsterilisiert.

Man ist, eingangs zumal, fröhlich voneinander genervt, fast wie in einer Boulevardklamotte: der trinkfreudige Patriarch (Franz Xaver Zach), seine von ständig zur Schau getragener Warmherzigkeit bereits zutiefst erschöpfte Frau (Susanne Konstanze Weber), die scharfzüngige, hochschwangere Tochter Martha (Sarah Sophia Meyer) mit dem schmierigen, karrierebewussten Schwiegersohn Thomas (Fredrik Jan Hofmann), die idealistische jüngere Tochter Helene (Maximiliane Haß), pünktlich heimgekehrt, um dabei zu sein, wenn das Baby „anmarschiert“.

In dieses Idyll gut eingesessener Lebenslügen schleppt Thomas’ unverhofft auftauchender Studienfreund Alfred (Matthias Lodd) eine Frage ein wie eine Infektion: Wieso können wir nicht mehr miteinander reden, was vergiftet die Gesellschaft? Soziale Verunsicherung und politische Spaltung macht Palmetshofer zum Fundament einer Gegenwartsdiagnose, die am Theater bereits einen bemerkenswerten Erfolgslauf hingelegt hat. Ende 2017 in Basel uraufgeführt, nur ein Monat danach am Wiener Akademietheater und Anfang dieses Jahres in Klagenfurt in Szene gesetzt, ist es nun in Graz zu sehen.

Hauptmanns naturalistisches Milieudrama von 1889 formt der oberösterreichische Gegenwartsdramatiker zu einer Untersuchung emotionaler und politischer Verhärtungen um, zum sozialen Degenerationskonflikt, der an der Auseinandersetzung des Gesinnungsjournalisten Alfred mit dem Kleinunternehmer Thomas das Scheitern der Linken und die Normalisierung des Rechtspopulismus beschreibt. Mottl belässt dieser Erzählung ihre Ambivalenzen, putzt die komödiantischen Elemente nach und nach aus, um den sozialen Moder unter den keimfreien Oberflächen freizulegen und lässt seinen Hauptdarstellern Hofmann und Lodd viel Raum im ungelenken Ringen um Verständigung: Fulminant, wie unterschiedlich die beiden dabei die versteckte Traurigkeit ihrer Figuren aufglühen lassen.

Letztlich erweist sich dann der schwermütige Wahrheitssucher Alfred, dem Helene ihr Herz zur Eroberung zu Füßen gelegt hat, als zutiefst feige: Als sich Depression als Familienkrankheit andeutet, stiehlt er sich davon. War bei Hauptmann noch der Alkoholismus der Grund für diesen Rückzug, stigmatisiert bei Palmetshofer bereits der Verdacht psychischer Instabilität. Aber wie soll eine Gesellschaft nicht auseinanderdriften, wenn sich die Menschen nicht mehr aneinander festhalten können? So ist, in düsterer Konsequenz, am Ende die Zukunft eine Totgeburt, der Sonnenaufgang keine Garantie für einen Neubeginn.

Langer Applaus für einen Abend, der mit gut zweieinhalb Stunden Dauer zwar gewisse Längen zeigt. Die werden aber durch die einmal mehr außerordentliche Ensembleleistung mehr als wettgemacht.