Europa bröckelt, politische Verhärtungen nehmen zu, die Verweigerungsrhetorik verschärft sich. Was tun? "Wir schaffen das!", postuliert der steirische herbst 2016 mit Angela Merkel und Barack Obama. Und nimmt den Selbstermutigungsaufruf zum Anlass, die "Verschiebung kultureller Kartografien" und damit die Gültigkeit von Europas politischen, ökonomischen, kulturellen, ethischen Werten im Angesicht humanitärer und anderer Katastrophen zu untersuchen.

Damit meldet sich der herbst selbstbewusst als Gegenwartsfestival zurück. Wirkte man im Vorjahr, als die Dramatik aktueller Fluchtbewegungen wirklich nicht mehr zu übersehen war, wie aus dem Raum-Zeit-Kontinuum gerutscht, wird nun wieder im Präsens angedockt. In etlichen Projekten verhandelt das Festival Fragen der Flucht und Migration, nimmt ein unter Druck geratenes Wertesystem unter die Lupe, wie das gestern präsentierte Festivalprogramm zeigt. Bereits die Eröffnungsproduktion führt tief unter die Oberfläche, wo in einer Mischung aus Panikraum und platonischer Höhle eine Gruppe überdimensionaler Maulwürfe haust. "Welcome to Caveland" heißt die Produktion des französischen Bildermagiers Philippe Quesnes, die menschliche Verhaltensmuster bis zur Kenntlichkeit verzerrt.

Vielversprechend sind die 22 Projekte im Bereich Bühne/Cross-over insgesamt. Mit dem Schweizer Milo Rau und seinem Stück "Empire", in dem vier Performer aus Krisenzonen von Flucht und Heimat erzählen, hat das Festival eine der spannendsten Proponenten zeitgenössischen dokumentarischen Theaters an Land gezogen.

Das katalanische Ensemble El Conde de Torrefiel stellt unter Mitwirkung einer Hundertschaft junger Grazer Europas Komfortzonen infrage. Thailands Starregisseur Apichatpong Weerasethakul (Cannes-Sieger 2010 mit dem Filmdrama "Onkel Boonmee"), bekannt für die außergewöhnliche Lyrik seiner Filmerzählungen, zeigt mit "Fever Room" seine erste Bühneninstallation im Grazer Orpheum.

Das wird seinerseits zum "club panamur" für Nachtaktive ausgerufen und mit umfangreichem Musikprogramm bespielt. Nicht weit davon mutiert der Volksgartenpavillon zum "Haus der offenen Tore" und wird im migrantisch geprägten Annenviertel zum Ort der Begegnung und transkulturellen Zentrum einer "Arrival Zone".

Zu der darf auch das Kunsthaus gezählt werden: Dort befasst sich die von der indischen Kunsthistorikerin Zasha Colah kuratierte herbst-Ausstellung "Body Luggage" mit Körpersprache: immaterielles Gepäck, das auch in Extremsituationen wie Verfolgung und Flucht nicht verloren geht. Ungewöhnlich, wenn auch weniger ephemer ist das Material der zweiten großen herbst-Ausstellung im Kunsthaus: In "Geknetetes Wissen", kuratiert von Peter Pakesch, befassen sich Ai Weiwei und Edmund de Waal mit Keramik als künstlerischem Material.