Wo anfangen, wo enden angesichts der enormen Fülle an Lebens- und Daseinsgeschichten, einer Vielzahl von Befunden über den Ist-, Soll- und Wunschzustand der Welt? Vielleicht mit einem kurzen, persönlichen Spiel der Erinnerungen. An jenen Dichter, der in der Mitte der 1960er-Jahre in einer Nische im Forum Stadtpark an einer reichlich betagten Schreibmaschine saß und stundenlang hoch konzentriert und völlig schreibbesessen eine Unzahl von Texten verfasste. Wie viele davon tatsächlich veröffentlicht wurden, vermag kein Mensch zu sagen, es ist auch nicht unbedingt wichtig. Was zählt und bleibt, ist das Bild von einem, der schon damals die Sprache zu seiner Bleibe machte.

Erzählkosmos

Als unnahbar und öffentlichkeitsscheu galt Peter Handke schon damals, doch die Verehrung als Popstar der Literatur dürfte ihn, langhaarig und stets mit Sonnenbrille, nicht wirklich gestört haben. Aber schon damals kristallisierte sich Peter Handkes bis zum heutigen Tag ziemlich einzigartige Fähigkeit heraus. Er war als Literat seiner Zeit oft so weit voraus, dass er in oft unbequemen Unterkünften auf sie warten musste. Und er widersetzte sich jeglicher Erwartungshaltung durch stets verblüffende Wendungen und Wandlungen. Nach und nach sickerten damals Meldungen und Geschichten über seinen legendären Auftritt 1966 in Princeton durch, in der ehrenwerten Runde der „Gruppe 47“, als er die deutschen Säulenheiligen der Literatur reihenweise vom Sockel holte. Als läppisch und öd bezeichnete er die Werke von Heinrich Böll, anderen schreckensbleichen Autoren warf er gar „Beschreibungsimpotenz“ vor.

Handke wurde zum Rebellen, zum Sprachrohr einer jungen, aufbegehrenden Generation, die sich nichts mehr vorschreiben lassen wollte, schon gar nicht in der Literatur. Auf den Sturm der Entrüstung reagierte er mit einem provokanten Wortorkan – der „Publikumsbeschimpfung“, die zu einem Skandalstück des Jahrzehnts geriet. Bald danach tauchte einer jener Schlüsselsätze auf, die den Weg in Peter Handkes Erzählkosmos doch erheblich erleichterten: „Indem ihm die Welt geheimnisvoll wurde, öffnete sie sich und konnte zurückerobert werden.“ Jedes seiner Werke ist eine Eroberung, aber es ist eine Eroberung einer Gegenwelt. Eines jedoch verwehrt der Autor all seinen Figuren: Sie mögen ein gültiges Ziel erreichen, ein endgültiges ist es nie. Das mag auch die viele Jahre währende Unsesshaftigkeit und Umtriebigkeit Handkes erklären, dessen Ort der Kunst nicht das „Irgendwo“ oder „Nirgendwo“, sondern das „Immerwo“ ist. Worte, Überlebende der Erinnerungen, sie leisten ihm dabei ihre stille Gesellschaft.

Es gibt Bücher, die zu Lebensbegleitern werden können. Im persönlichen Fall ist es Peter Handkes „Das Gewicht der Welt“, ausgewiesen als Journal, prallvoll mit oft scheinbar nebensächlichen Beobachtungen, Erkenntnissen, Vorsätzen, Verweisen auf andere Autorinnen und Autoren, Satzminiaturen, die sich entfalten wie Erzählungen. Vor allem aber sind es Lektionen über das Schauen, über den Blick für kleine, belanglose Details, denen nicht selten spezielle Bedeutung innewohnt. Jahrelang war dieses Journal das wichtigste Reisegepäck. Weit kam es herum, tiefe, prägende Spuren hinterließ es. Einstmals schrieb Peter Handke über seine Kindheit dies: „Ich wollte immer Melancholiker sein. Ich wollte auf einem Stein sitzen und nie mehr aufstehen.“ Er änderte seinen Vorsatz, zum Glück für jene, die ihn und seine Werke schätzen, zum Ärger jener, die anderer Meinung sind.

Im Verlauf von weitaus mehr als fünf Jahrzehnten errichtete Peter Handke mit immenser Vorstellungskraft einen Wortpalast, kolossal und doch fragil, transparent und doch rätselhaft, angesiedelt am Rande der Niemandsbucht, umsäumt vom Wald mit dem Dingsda und der schroffen Sierra de Gredos. Mag sein, dass in einem dieser fiktiven Räume eine Jukebox steht, in der ein Bob-Dylan-Song rotiert oder der Untertagblues erklingt. Andernorts in diesem Immerwo eröffnet ein Felsenfenster den Blick auf die morawische Nacht. Bleibt, als Geräusch, nur noch eines: „Das Hinfallen des Bleistiftes auf den Tisch. Dann die Stille, und der im Garten fallende Schnee als Sehenswürdigkeit.“ Peter Handke ist ein Monument in der Literaturlandschaft, an dem man sich auch heftig reiben kann. Seinem „Spiel vom Fragen“ fügte er durch seine politischen Essays einige Fragwürdigkeiten hinzu. Im Oktober wurde sein „Versuch über den geglückten Tag“ Realität. „Er war sehr gerührt“, berichtete Anders Olsson, Vorsitzender des Nobelkomitees, der Handke telefonisch benachrichtigte. Und dann, so Olsson, folgte die Frage: „Ist das wahr?“ Es ist Geschichte. Literaturgeschichte.