Sie sitzt an seinem Bett und versucht, Simone de Beauvoir zu lesen. Ein sinnloses Unterfangen, denn sie weiß, „auf irgendeiner Seite dieses dicken Buches würde mein Vater nicht mehr leben“. Kurze Zeit später: Der Vater ist tot. Er hat sie zurückgelassen. Endgültig. Aber dieses Verlassenwerden, das hat sich schon viel früher abgezeichnet.
1983 ist „Der Platz“ von Annie Ernaux zum ersten Mal erschienen, nun gibt es eine Neuauflage. Ernaux zeichnet darin die Biografie ihres Vaters nach. Ihre Mission: „Das Erbe ans Licht holen, das ich an der Schwelle zur gebildeten, bürgerlichen Welt zurücklassen musste.“

Das Leben ihres Vaters ist auf den ersten Blick nicht außergewöhnlich, sondern ähnelt vielen Biografien dieser Zeit: Sohn von Tagelöhnern, der sich Stück für Stück sein Leben erobert hat. Auch typisch für diese Generation: Es gibt nur eine Richtung und zwar die nach oben. Ein kleiner Supermarkt, ein kleines Café, ein kleiner Aufstieg gepaart mit der großen Angst, das alles zu verlieren. Die Tochter, sie soll studieren, den Aufstieg noch weiter vorantreiben, verankern.

Annie Ernaux. Der Platz. Suhrkamp-Verlag, 94 Seiten, 18,50 Euro.
Annie Ernaux. Der Platz. Suhrkamp-Verlag, 94 Seiten, 18,50 Euro. © Suhrkamp

Doch das reißt einen Graben zwischen Vater und Tochter auf. Es ist mehr als ein emotionaler Graben, sondern eine Art Sollbruchstelle, die jedem Milieuwechsel eingeschrieben scheint. Von der Schule auf die Universität, von der Kleinstadt nach Paris, von der Kleinbürgerlichkeit zum Bürgertum. Sie steigt auf, er fühlt sich degradiert. Ernaux fungiert als „Ethnologin ihrer selbst“, filetiert ihre eigenen Familiengeschichte, die zeigt: Der Aufstieg hat seinen Preis. Sie hat ihre Mission erfüllt, ihr Vater auch: „Vielleicht sein größter Stolz, sogar sein Lebenszweck: dass ich eines Tages der Welt angehöre, die auf ihn herabgeblickt hatte.“