Er hat uns in den „alten Patagonienexpress“ gesetzt und mit lodernden Worten nach Feuerland entführt; er hat die „Mosquito Coast“ nicht gemieden und sich in China auf den eisernen Hahn gesetzt; er hat uns vor Augen geführt, dass auf den „glücklichen Inseln“ nicht zwangsläufig glückliche Menschen wohnen und dass im tiefen Süden der USA nicht nur der Mississippi versumpft ist. Aber jetzt hat der große Reiseschriftsteller Paul Theroux sein bislang gefährlichstes Abenteuer angetreten, denn in seinem neuen Buch wagt er sich in ein Land vor, in dem zwar kein offizieller Krieg herrscht, das aber dennoch schwer vermint ist. Dieses Land heißt „Mutterland“ – der fulminante Roman auch.

Die Frage, wie autobiografisch eingefärbt diese ebenso große wie bösartige Familienchronik ist, stellt sich hier nicht, denn der Erzähler ist – Reiseschriftsteller. Dieser kehrt zurück nach Cap Cod, weil der Vater, ein großer Dulder vor dem Herrn, seine letzte Reise antritt. Alle Geschwister sind angetreten, um dem Verschwindenden die letzte Ehre zu erweisen; doch selbst der Tod hat keine Chance gegen die übermächtige Präsenz einer anderen Figur, im Angesicht derer sogar Mephisto den Schwanz einziehen würde: Mutter. Diese, eine widerwärtige Intrigantin und machtbesessene Matriarchin, hat die Familie immer als jenes Land gesehen, in dem es nur eine Herrscherin geben kann.

Paul Theroux setzt in „Mutterland“ mit ruhiger, kühler Hand das Skalpell an und legt Schnitt um Schnitt die Schichten dieses todkranken Kollektivkörpers namens Familie frei. Mit chirurgischer Präzision und der Neugier eines Naturwissenschaftlers dringt er in Tiefen vor, wo nicht Glaube, Liebe, Hoffnung zu finden sind, sondern ausschließlich Blut, Schweiß und Tränen. Es ist eine unbarmherzige, bravourös geschriebene Abrechnung mit einer manipulativen, selbstsüchtigen Tyrannin, die stets das Furchtbarste im Auge hat: das Wohl der Familie.

Doch nicht der Hass ist der größte Horror, sondern der vergebliche Versuch, auch inmitten dieser lebensbedrohenden Kriegslandschaft jene Liebe zu finden, auf die jeder Mensch angewiesen ist. Eine „mission impossible“, ein aussichtsloses Gefecht ohne Sieger; eine brutal scheiternde Landnahme mit massiven Kollateralschäden.
Paul Theroux hat diese Reise antreten müssen. Denn nur durch die Kraft des Schreibens kann es von der Karte verschwinden – das Mutterland.

Paul Theroux. Mutterland. Hoffmann und Campe, 656 Seiten, 28,80 Euro.