Oft genug ist "Jahrhundertroman" ein abgegriffenes Etikett. Aber bei dem neuen Buch von Christoph Hein passt der Begriff besser als alles andere. Der vielfach preisgekrönte Autor verfolgt in "Trutz" das Schicksal zweier Familien durch die dunkelsten Zeiten der jüngsten Geschichte, von Hitler über Stalin bis zum Zusammenbruch des SED-Regimes - ein Jahrhundert im Brennglas.

Der Literaturkritiker Denis Scheck sprach in der ARD-Sendung "Druckfrisch" vom wichtigsten Roman dieses Frühjahrs: "Ein absolut hinreißendes Buch". Die Hauptfigur Rainer Trutz gibt dem Roman den Titel. Der junge Mann verlässt früh den elterlichen Hof, um im Berlin der frühen 30er Jahre seinen Traum vom Schriftstellerberuf zu verwirklichen. Doch in der aufziehenden NS-Zeit gerät er trotz seiner eher unpolitischen jugendlichen Elaborate rasch ins Visier der Gestapo. Zusammen mit seiner Frau Gudrun, die als christliche Sozialistin ebenfalls gebrandmarkt ist, bleibt ihm eines Tages nicht anderes als die Flucht nach Moskau. Ein Weg vom Abgrund ins Verderben.

Erinnerungsforscher

In der Zeit der großen Säuberungen lernen Gudrun und Rainer Trutz dort den bekannten Erinnerungsforscher Waldemar Gejm kennen. Zwischen den Söhnen der beiden Familien entwickelt sich beim gemeinsamen Gedächtnistraining eine Freundschaft, die alle politischen Grauen übersteht. Während die Eltern einer nach dem anderen der stalinistischen Schreckensherrschaft zum Opfer fallen, treffen die Freunde Maykl Trutz und Rem Gejm im Alter noch einmal zu einer Schicksalsgemeinschaft zusammen.

All das ist in einem kühl distanzierten, fast dokumentarischen Ton erzählt. Hein knüpft auch in diesem größeren historischen Bogen mühelos an die Meisterschaft an, die ihn spätestens mit dem vielgelobten Werk "Landnahme" (2004) zum "poetischen Chronisten der DDR" machte. "Der Mann schwang seinen polierten Holzknüppel und traf ihn mitten auf die Stirn. Rainer Trutz fiel um", so lakonisch etwa berichtet er vom Tod seiner Hauptfigur im Gulag am Ural.

Packend und berührend

Und dennoch ist die Geschichte vielleicht gerade deshalb packend und berührend. Mit dem zentralen Thema des Erinnerns stellt Hein die immer wieder drängende Frage nach dem Umgang mit der eigenen Vergangenheit. So sind die sowjetischen Machthaber zunächst hochinteressiert an den Erkenntnissen des Sprachwissenschaftlers Gejm, bis sie merken, dass sich ein gutes Gedächtnis der Indoktrination und Gleichschaltung widersetzt.

Ironie der Geschichte: Gerade Gejms gelehrigster Schüler Maykl wird später in der DDR trotz seines brillanten Erinnerungsvermögens ins Literaturarchiv nach Weimar abgeschoben, weil er die SS-Vergangenheit eines SED-Oberen aufdeckt. Davon will das System nichts wissen, es deckt seine Chargen, solange es geht. "Das Vergessen wird belohnt, nicht das Gedächtnis", notiert Maykl Trutz enttäuscht.

Mit einem leichthändigen Kunstgriff wird dieser Erinnerungsakrobat übrigens auch zur Schlüsselfigur des Romans. Hein führt ihn als denjenigen ein, der ihm das erschütternde Familienschicksal erzählt hat. Im Gespräch mit dem Literaturkritiker Scheck lupft der Autor allerdings das Geheimnis. Er habe erst die Geschichte und die Figuren erfunden und dann die Historie auf das Genaueste recherchiert. "Es ist", so fasst er zusammen, "eine erfundene Geschichte, die jeder Überprüfung standhält."

Christoph Hein: "Trutz", Suhrkamp, 477 Seiten, 25,70 Euro