Der Deutsche Buchpreis 2021 geht an Antje Rávik Strubel für den Roman "Blaue Frau" (S. Fischer Verlag). Diese Entscheidung der Jury ist am Montagabend in Frankfurt bekannt gegeben worden. Der Preis ist mit 25.000 Euro dotiert. Im Rennen waren mit Monika Helfer und Norbert Gstrein auch zwei Autoren aus Österreich, sowie Christian Kracht, Thomas Kunst und Mithu Sanyal. Sie bekommen nun je 2.500 Euro.

"Mit existenzieller Wucht und poetischer Präzision schildert Antje Rávik Strubel die Flucht einer jungen Frau vor ihren Erinnerungen an eine Vergewaltigung. Schicht um Schicht legt der aufwühlende Roman das Geschehene frei. Die Geschichte einer weiblichen Selbstermächtigung weitet sich zu einer Reflexion über rivalisierende Erinnerungskulturen in Ost- und Westeuropa und Machtgefälle zwischen den Geschlechtern", heißt es in der Begründung der Jury. "In einer tastenden Erzählbewegung gelingt es Antje Rávik Strubel, das eigentlich Unaussprechliche einer traumatischen Erfahrung zur Sprache zu bringen. Im Dialog mit der mythischen Figur der Blauen Frau verdichtet die Erzählerin ihre eingreifende Poetik: Literatur als fragile Gegenmacht, die sich Unrecht und Gewalt aller Verzweiflung zum Trotz entgegenstellt."

Der Jury des Deutschen Buchpreises gehörten neben dem Sprecher Knut Cordsen, Kulturredakteur beim Bayerischen Rundfunk, auch Bettina Fischer (Leiterin Literaturhaus Köln), Anja Johannsen (Leiterin Literarisches Zentrum Göttingen), Richard Kämmerlings ("Die Welt"), Sandra Kegel ("Frankfurter Allgemeine Zeitung"), Beate Scherzer (Buchhändlerin) und Anne-Catherine Simon ("Die Presse") an. In diesem Jahr hatten 125 Verlage insgesamt 197 Romane eingereicht, ein neuer Rekord. Dazu konnte die Jury weitere Bücher selbst vorschlagen, dass schließlich 230 Titel gesichtet wurden.

Zweimal ging bisher der Deutsche Buchpreis nach Österreich: 2005 an Arno Geiger ("Es geht uns gut") und 2017 an Robert Menasse ("Die Hauptstadt"). Die Vergabe des Deutschen Buchpreises markiert gleichzeitig den Auftakt zur Frankfurter Buchmesse, die am Dienstag offiziell eröffnet wird und bis 24. Oktober dauert.

Zum Buch: "Blaue Frau".

Am Anfang ist die junge Frau in einem desolaten Zustand: Sie betäubt sich mit Schnaps in einer fremden Wohnung in einem fremden Land, die Tür abgeschlossen und malt sich aus, wie sie im Gericht von Helsinki ihre Aussage machen wird. Die Hände der Männer in Handschellen werden zittern, erhofft sie sich. Die junge Frau mit den drei Namen - Nina, Sala, Adina - ist traumatisiert, das wird im ersten Kapitel von Antje Rávik Strubels neuem Roman "Blaue Frau" schnell klar.

Auf mehr als 420 Seiten entfaltet die 47-jährige Autorin danach nicht nur die MeToo-Geschichte einer Frau, die nach einem Weg sucht, wie sie nach einer Vergewaltigung weiterleben kann. "Blaue Frau" handelt darüber hinaus von Machtstrukturen in Beziehungen, Institutionen und Staaten. Es geht um das Macht- und Mentalitätsgefälle zwischen Ost und West, um den Zusammenhang von Geld und Autorität, um Ausbeutung von Menschen im angeblich vereinten Europa des Jahres 2004. Der Ost-West-Roman sei "meisterhaft in der Verflechtung der Handlungsstränge", urteilte die Jury des Deutschen Buchpreises und setzte "Blaue Frau" auf die Shortlist des Buchpreises, den sie nun erhielt.

Gekonnt wechselt die bereits mehrfach mit Literaturpreisen ausgezeichnete Strubel die Zeitebenen und Schauplätze. Adina bricht aus dem tschechischen Skiort Harrachov nach Berlin auf, wird dort von der dominanten, faszinierenden Fotografin Rickie aufgegabelt und bald von ihr für ein Praktikum in die Uckermark geschickt, wo grenznah zu Polen mit Fördergeldern ein Kulturhaus entstehen soll.

Ein Verbrechen ändert alles, Adina flieht nach Finnland. In dem Hotel, wo sie einen prekären Job hat, trifft sie Professor Leonides, einen EU-Abgeordneten aus Estland. In der Beziehung zu dem älteren Mann flammt zunächst so etwas wie Hoffnung auf. Gespiegelt wird das Seelenleben der Figuren oft in Naturschilderungen. Eingeschobene lyrische Passagen mit mysteriösen Begegnungen mit einer blauen Frau am Hafen von Helsinki unterbrechen und reflektieren die Handlung. Die Identitäten der Erzählerin und Protagonistin verschwimmen zunehmend.

"Blaue Frau" ist auch ein Entwicklungsroman. Beim Lesen stellt sich die Frage, wie sich Adina aus den Rollen lösen kann, die ihr verschiedene Männer, aber auch die queere Community um die Fotografin Rickie auferlegen. Ist der "Letzte Mohikaner" ein Ausweg? So nannte sich die Tschechin als Jugendliche in Chats - in Anspielung darauf, dass sie der letzte einheimische Teenager in ihrem Dorf ist, in dem Skitouristen aus Deutschland und Russland den Ton angeben. Als "Mohikaner" fühlt sie sich stark, frei und unabhängig.

Acht Jahre hat die in Potsdam lebende Schriftstellerin an "Blaue Frau" gearbeitet, sie war als Stipendiatin in Los Angeles und Helsinki. Möglicherweise traf sie dabei selbst Kulturfunktionäre, die als Vorbild für die teils satirisch überzeichneten Figuren im Roman dienten. Das Besondere an "Blaue Frau" ist, wie Strubel den individuellen Kampf einer vergewaltigten Frau und ihren Weg zur Selbstermächtigung mit grundsätzlichen Fragen zu Machtmissbrauch und Ausbeutung in Europa verbindet.