Marcel Proust hat 15 Jahre an der „À la recherche du temps perdu“ – „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ – gearbeitet. Sie brauchten zehn Jahre für die Übersetzung. Wie hoch war der Anteil an Lust und wie hoch jener an Leid?
Bernd-Jürgen Fischer: Die Zeit, die ich mit Proust zugebracht habe, war rundum interessant, anregend, bestens investiert. Kein Leid nirgendwo. Am meisten Kopfzerbrechen haben immer Wendungen bereitet. Darin überlagert sich eine Gesamtbedeutung mit einer „wörtlichen“ Bedeutung, die eine der jeweiligen Sprache ganz eigentümliche Sichtweise zum Ausdruck bringt.

Alles begann damit, dass Ihnen in Vietnam der Lesestoff ausging. Erzählen Sie bitte kurz.
Ich dachte, ich könnte in Saigon mühelos mit englischer Literatur wieder aufmunitionieren, aber Pustekuchen. So habe ich schließlich mit einer französischen Fassung des ersten Bandes von Prousts „Suche“ Vorlieb genommen und bin dann fast aus der Hängematte gefallen: Ein völlig anderes Buch, eine gänzlich neue Erzählerstimme. Als ich dann wieder zu Hause war, habe ich mit dem Versuch begonnen, das einzufangen, was ich da hörte.

Was unterscheidet Ihre Übersetzung von jener von Eva Rechel-Mertens aus dem Jahr 1957?
Ein Unterschied, der ins Auge fällt, liegt jedenfalls in meiner genauen Abbildung der Proustschen Syntax, was den Text nicht direkt einfacher macht. Proust jedoch war sprachverliebt, und da wirkt jede Vereinfachung wie ein Maulkorb. Der französische Kritiker Paul Souday hatte ja bereits 1913 die vielen Konjunktive in Prousts Text bemängelt, und der gleiche Vorwurf wurde auch mir bezüglich meiner Übersetzung gemacht: Vielen Dank, lieber Kritiker, aber der Konjunktiv ist unsere Fähre in das Reich der möglichen Welten! Und wenn Proust darin schwelgt, folgen wir ihm besser.

Proust beschreibt das Leben der großbürgerlichen und adeligen Gesellschaft der Belle Époque. Vor allem aber ist das 4000-Seiten-Werk ein Erinnerungsmonument. Geht es also um die Frage: Was passiert im menschlichen Gehirn, wenn wir uns erinnern?
Ungern widerspreche ich Ihnen, aber das Gehirn spielt für Proust keine Rolle; ihm geht es um den Geist, dem die Fähigkeit zur Erinnerung eine vierte Dimension des Daseins eröffnet, eben die der Zeit. Die relativistische Physik begann ja auch zu eben jener Zeit, von der Betrachtung des statischen Objekts abzurücken und stattdessen Weltlinien zu betrachten: Das Individuum, das sich von seiner Geburt bis zu seinem Tod erstreckt, das nicht wie ein Stein auf den Grund des Zeitenmeeres fällt, sondern sich dank des Taucheranzugs der Erinnerung tummeln kann wie ein Fisch im Strom der Zeit.



Wie viele Menschen, schätzen Sie, haben das Buch respektive die Bücher denn tatsächlich gelesen? Proust in aller Munde, aber nicht in vielen Händen?
That’s a fact! Mich hat einmal ein amerikanischer Professor, der einen Kurs über Proust veranstaltet hatte, darüber belehrt, worum es bei Proust „wirklich“ geht. Es stellte sich dann heraus, dass er nur den ersten Band gelesen hatte. Anscheinend kann man auch damit gut durchkommen. Und selbst Leute, die frisch und frank zugeben, die „Suche“ nicht gelesen zu haben, sehen keinen Grund, nicht doch ihre Meinung dazu auszubreiten, etwa in der FAZ.



Vom Menschen Marcel Proust hat man das Bild eines hypersensiblen Hypochonders.
Hypersensibel alle Mal; Hypochonder wäre etwas unfair, da er ja tatsächlich unter schwerstem Asthma gelitten hat. Ich sehe ihn eher als genialen Narzissten – also auch in seinem Narzissmus genial. Da kann man noch was lernen!

Sie schreiben: Sich von Proust wieder loszureißen, erfordert den ganzen Mann. Was würden Sie Proust-Novizen empfehlen, um sich von diesem Autor hinreißen zu lassen? Mit welchen Schritten soll man diese Welt betreten?
Mit dem Schritt ins Bett: „Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen.“ Fangen Sie an zu lesen, und lesen Sie dann weiter. Mit einem Mal sind Sie durch und fragen sich dann: Was nun?

Martin Walser hat einmal geschrieben, wenn Proust ein Industrieartikel wäre, würde er zum Slogan „Proust-Leser sind im Vorteil“ raten. Welchen Vorteil haben Proust-Leser denn? Und warum sollte man die „Recherche“ heute noch lesen?
Als Proust-Leser haben Sie den Vorteil, dass Sie den Jahrmarkt der Eitelkeiten durch und durch kennen.

Welche zeitgenössische Autorinnen und Autoren finden Ihr Wohlwollen?
Seit ich Proust übersetzt habe, kann ich keine deutschen Autoren mehr lesen: Ihre Sprache erscheint mir seit dem zu fadenscheinig. Ich lese jetzt viel Amerikaner, zuletzt Richard Russo, ein ausgezeichneter Erzähler.

Buchtipps

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Marcel Proust. Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Übersetzung: Bernd-Jürgen Fischer. Reclam, 45,30 €.

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Ulrike Sprenger. Das Proust-ABC. Reclam, 318 Seiten, 20,50 Euro.


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Marcel Proust. Der geheimnisvolle Briefschreiber.
Frühe Erzählungen. Suhrkamp, 174 Seiten, 28,90 €.