Über Maja, eine Figur in Ihrem neuen Roman, schreiben Sie: „So viel Leben war in ihr und nicht die Gier nach Leben.“ Können Sie die Lebensgier nach den derzeitigen Öffnungsschritten nachvollziehen?
BIRGIT PÖLZL: Ich würde das, was jetzt passiert, nicht als Gier, eher als Sehnsucht bezeichnen. Die Menschen wollen wieder diese Präsenzerfahrung machen. Es geht immer um Nähe – und das ist ein zutiefst menschliches Bedürfnis.

Bleiben wir trotzdem kurz bei der Gier. An einer Stelle des Romans schreiben Sie von „gierverklebten Synapsen“.
Das ist systemisch gemeint. Wir leben in einem Wirtschaftssystem, das von der Wiege bis zum Grabe singt: In der Steigerung, im Mehr liegt das Glück, die Sinnerfüllung. Diese permanente Vereinnahmung und Korrumpierung formt unser Gehirn – verklebt eben unsere Synapsen. Und diese permanent erzeugte Gier zieht natürlich auch eine Abhängigkeit nach sich.

Die Figuren in Ihrem neuen Roman „Von Wegen“ und auch im vorigen Buch versuchen, dieser Abhängigkeit zu entkommen, und suchen nach alternativen Lebensformen.
Ja. Und sie scheitern daran. Und versuchen es wieder. Und scheitern wieder. Und versuchen es noch einmal.

Suchen Ihre Roman-Menschen nach dem viel zitierten „richtigen Leben“?
Exakt. Und die Matrix dafür ist die Eudaimonia, das Konzept des gelungenen Lebens. Wann bin ich glücklich? Dann, wenn ich im Einklang mit mir, ethischen Vorstellungen und vor allem mit der Natur lebe. Dann muss ich nichts verdrängen, dann muss ich nicht mich selbst beschädigen.

Haben Sie die Befürchtung, dass sich die Gierspirale noch schneller dreht, wenn wir wieder in die „Normalität“ zurückkehren?
Das ist eine Gefahr, ja. Trotzdem hoffe ich, dass ein Prozess angestoßen wurde, der langfristig zu einem Umdenken führt. Diese Erfahrung der Pandemie wird nicht spurlos an uns vorübergehen.

In der Vorbemerkung zum neuen Roman schreiben Sie, dass alle Figuren versuchen, anders zu leben, und dass dieses Ringen „Gültigkeit besitzt in einer Zeit, die Wandel braucht wie Luft zum Atmen“. Wonach sollen wir denn ringen?
Nach einem Glücksbegriff, der das eigene Glück mit dem Glück der anderen und dem Wohlergehen der Umwelt verbindet. Das klingt groß und vielleicht auch trivial.

Aber dem stehen die „Egokathedralen“ im Weg, von denen Sie auch schreiben.
Ja, das sind ziemlich mächtige Bauwerke, die wir da errichtet haben. Und deshalb wird es vermutlich noch mehr Leiderfahrung brauchen, um diese Kathedralen ins Wanken zu bringen. Ich bin nicht so naiv zu glauben, dass alle noch anstehenden Gefahren durch die Erfahrungen der Pandemie gelöst werden können. Wir werden uns nicht sofort adäquat und verantwortungsvoll verhalten, das wird ein Ringen über Generationen hindurch sein. Aber, so pathetisch bin ich, unser eigenes Verhalten wird darüber entscheiden, ob wir als Gesellschaft überleben oder nicht.

In den Ego-Kathedralen wird naturgemäß kein Gott angebetet, sondern das eigene Ich.
Und Selbstanbetung schließt Rücksichtsnahme aus. Aber es gibt auch positive Signale. Viele junge Menschen leben sehr bewusst und versuchen, mit weniger auszukommen.

Wird es jetzt eine Flut von Corona-Literatur geben?
Ich hoffe nicht! Ich wünsche mir, dass stärker in die Zukunft gedacht wird. Welche Mechanismen können beim Überleben helfen, welche Transformationen sind notwendig? Wir müssen endlich Konsequenzen ziehen aus dem, was um uns und mit uns passiert. Und nicht immer nur reden und beschreiben. Und wir müssen uns auch die Frage stellen, mit welchen Ausdrucksformen wir diese Notwendigkeiten abbilden können. Die Kunst, also auch die Literatur, muss diesen Sensibilisierungsprozess vorantreiben, denke ich. Wir Künstler müssen widerständig sein.

© KK

Buchtipp. Birgit Pölzl. Von Wegen. Leykam, 250 Seiten, 21 Euro.