Weit herum kommt man in den Werken von Sebastian Barry (66). Wobei der vielfach preisgekrönte irische Autor,  der zu den besten britischen Gegenwartsliteraten zählt, seine Leserschaft schon auch sehr schonungslos mit blutigen Grausamkeiten konfrontiert. „Tage ohne Ende“ und die Fortsetzung „Tausend Monde“ führen in den amerikanischen Bürgerkrieg, „Ein langer, langer Weg“ schildert auf grauenhafte Weise die Begeisterung, mit der ein junger irischer Freiwilliger in den Ersten Weltkrieg zieht. Sein Name: Willie Dunne.
Nun schließt sich ein Kreis. „Annie Dunne“ ist ein Frühwerk aus demJahr 2002, diese Annie Dunne ist die Schwester des Soldaten. Hier soll aber gleich Entwarnung gegeben werden, denn es gibt keine weiteren, wesentlichen Berührungspunkte oder auch nur Ansätze einer Familienchronik.

Einklang

Diesmal schweigen die Waffen, eine gänzlich andere Stille breitet sich aus. Denn dieses wunderbare Buch ist eine irische Variante des sanftenGesetzes, reich an Lektionen über Schlichtheit, über den Einklang zwischen Natur und Mensch.
Barry besitzt die rare Gabe, seine Leserinnen und Leser schon mit demersten Satz abzuholen und sie hineinzuführen in Geschichte, der es an größeren Ereignissen mangelt. Aber die Kunst, dennoch Spannungsbögen zu schaffen, durch scheinbar simpelste Geschehnisse, macht dieses Buch zu einem herausragenden Ereignis.
„Ach, Kelsha ist ein abgelegener Ort, hinter den Bergen, ganz gleich, von wo man kommt. Man muss über die Berge, um dorthin zu gelangen, und schließlich durch Träume“: So beginnt der Roman, so beginnt der Weg zum kleinen Bauernhof, auf dem Annie Dunne, 62 Jahre alt und körperlich behindert, gemeinsam mit ihrer Cousine Sarah lebt.

Wortgemälde

Der kleinbäuerliche Alltag bestimmt den Verlauf dieser im Jahr 1959 angesiedelten Geschichte vom einfachen, anspruchslosen und genügsamen Leben, geprägt vor allem durch den Wandel der Jahreszeiten. Es ist die Natur, die Sebastian Barry in faszinierende Wortgemälde verwandelt, es ist ein Idyll aus Begriffen, die ganz im Gegensatz zur chaotischen Wirklichkeit stehen. Für Abwechslung sorgt lediglich der Besuch eines Großneffen und einer Großnichte. Zwei Großstadtkinder, die auf dem Bauernhof die Sommermonate verbringen und für stürmischere Zeiten sorgen.
„Da stehe ich also unter dem Sternenhimmel und wiederkäue Gedanken, als wäre ich selbst ein Tier, ein weiteres Ding in der Überfülle der Welt“. So heißt es in einer der vielen, auf seltene Weise berührenden Passagen. Doch diese Protagonistin geht nicht verloren, sie strahlt auf ihre Art, unübersehbar.
Mit „Annie Dunne“ bereichert Sebastian Barry die Literaturlandschaft völlig fernab von „Heiler-Welt-Poesie“ mit einer faszinierenden, vom Schicksal erheblich geprüften Frauenfigur, reich an leisen, eindringlichen Seelentönen.

LESETIPP:

Sebastian Barry. Annie Dunne. Steidl.  274 Seiten, 24,90 Euro