"Meiner Wahrnehmung nach waren diejenigen, die übergriffig wurden, in der Gesamtzahl der Erwachsenen, mit denen wir es zu tun hatten, nur eine ganz kleine Gruppe, aber eine, die mir die Kindheit versaute." Wenn sich Josef Haslinger daran erinnert, was ihm als Zögling im Sängerknabenkonvikt Stift Zwettl widerfahren ist, möchte er nicht ungerecht sein. Doch er weiß: "Mein Fall" ist kein Einzelfall.

Immer wieder hat Haslinger in literarischen Texten auf seine damaligen Missbrauchserfahrungen Bezug genommen und hat sich auch in der in Gang gekommenen Debatte um die Aufarbeitung dieser Art von strukturell begünstigter Gewalt zu Wort gemeldet. Dass daraus nun ein Buch geworden ist, ist ausgerechnet jenem Gremium zu verdanken, das dem Autor eigentlich diesen Gang an die Öffentlichkeit hätte ersparen sollen: der "Unabhängigen Opferschutzkommission" unter dem Vorsitz der ehemaligen steirischen Landeshauptfrau Waltraud Klasnic.

In dem Buch, das Mitte der kommenden Woche erscheint und am 10. Februar in der Alten Schmiede in Wien präsentiert wird, verbindet Haslinger drei Ebenen: die Erinnerung an erlittenen sexuellen Missbrauch und Gewaltausübung, seinen späteren Umgang mit diesen Erfahrungen, und den Umgang jener mit seinen Berichten, die von der Gesellschaft und der Kirche dazu berufen wurden, sich damit auseinanderzusetzen. Letztere kommen nicht gut weg dabei.

In größter Genauigkeit dokumentiert Haslinger seine Kontakte, die am 25. November 2018 mit einem Mail an Brigitte Bierlein, damals Präsidentin des Verfassungsgerichtshofes und später erste Österreichische Bundeskanzlerin, als Mitglied der Opferschutzkommission ihren Ausgang nahmen. Innerhalb kurzer Zeit führt er zwei als interessiert und konzentriert empfundene Gespräche mit Bierlein und Klasnic, wundert sich darüber, dass beide dabei auf jegliche Aufzeichnungen verzichten, und wundert sich noch mehr, als ihm danach klargemacht wird, es habe sich quasi bloß um Sondierungsgespräche gehandelt, die eigentliche Fall-Aufnahme müsse erst stattfinden. Als er im Februar 2019 schließlich einem Mitarbeiter der Erzdiözese Wien gegenübersitzt, wird er von diesem am Ende des Gesprächs ersucht, seine Ausführungen schriftlich zusammenzufassen. "Sie sind doch Schriftsteller. Sie können das ja alles viel besser formulieren als ich das kann."

Dokumentation von Erlebtem

Das hat Haslinger nun also gemacht. "Mein Fall" ist kein Roman und keine Erzählung. Es ist eine Dokumentation von Erlebtem und seinen Auswirkungen. Ähnlich wie in "Phi Phi Island" nach dem Tsunami von 2004, den er und seine Familie überlebten, versucht er in größtmöglicher Umsicht und Nüchternheit die äußeren Umstände und ihre inneren Auswirkungen zu beschreiben, setzt sich mit den Mechanismen von Erinnerung und psychischer Verarbeitung auseinander. "Ich glaube, dass es mir letztlich ganz gut gelungen ist, die Tsunami-Kurve zu kriegen", schreibt Haslinger. "War das nicht der beste Beleg, dass man Traumata auch abschütteln kann?" Doch diesmal sind auch andere Menschen Teil von Haslingers Fall - als Täter, als Opfer, als Zeugen, als Teil einer Gesellschaft, die vieles nicht wahrhaben wollte oder gar akzeptierte.

Die Namen der Patres

Erst als er feststellte, dass die Patres, die ihn verführten oder mit psychischer und physischer Gewalt "erzogen", nicht mehr am Leben sind, sei er dazu bereit gewesen, ihre Namen zu nennen, schreibt Haslinger. Für die Leser sind diese angeführten Namen Nebensache. "Mein Fall" interessiert vielmehr durch die Mischung aus Sensibilität und Schonungslosigkeit, die er bei seiner Aufarbeitung an den Tag legt: verständnisvoll gegenüber anderen, ehrlich sich selbst gegenüber. Denn, so Haslingers Einsicht, mit seinem Verhalten in den Jahrzehnten danach, habe er sich erst recht als Teil des Systems erwiesen, das er überwinden helfen möchte.

Es gehe ihm nicht um eine persönliche Entschädigung, schreibt Josef Haslinger. Aber es wäre etwa Aufgabe des Klosters Stift Zwettl, "Klarheit darüber herzustellen, ob die Gewalttätigkeiten und pädosexuellen Übergriffe im Konvikt nur in meiner Zeit verbreitet waren, wer wann in welcher Weise in solche Praktiken verstrickt war und wer ihre Opfer waren." Das wäre für ihn "die größte Entschädigung". Die Zwettler Sängerknaben gibt es übrigens seit 2017 nicht mehr. Eine 500-jährige Tradition war zu Ende gegangen. Offizielle Begründung: Nachwuchsmangel.