Die Frage „Was wäre denn gewesen, wenn ...?“ stellt sich in Rückblicken auf eigene oder andere Lebenswege irgendwann sicher. Aber natürlich erhält sie bei Künstlerkarrieren eine speziellere, wenngleich stets auch spekulative Bedeutung. Aber: Was wäre denn tatsächlich anders geworden, hätte Peter Handke sich 1961 nicht entschlossen, seinen Heimatort Griffen zu verlassen, um in Graz Rechtswissenschaften zu studieren?
Das Jus-Studium selbst interessierte ihn herzlich wenig, von einer „Alleinmüdigkeit“ schrieb Handke später einmal. Sein Lebensinhalt war schon damals die Literatur, die frühe Bewunderung von Autoren wie Kafka, das Schreiben – und sein schon in diesen Jahren ausgeprägtes Bestreben, für all das Gesehene, Erlebte, Erdachte eine sprachlich völlig neue Tonart zu finden und zu einer neuen poetischen Weltbetrachtung zu gelangen.

Klar ist, dass der Weg von Peter Handke zum Schriftsteller vorgezeichnet war. Das im stürmischen Aufbruch befindliche Forum Stadtpark bot ihm dafür Abkürzungen und erhebliche Beschleunigungsmöglichkeiten. Seit 1960 erschienen hier die „manuskripte“, Jungdichter wie Wolfgang Bauer wirbelten durch die Literaturszene, rasch hatte Graz alternierend Titel wie „Geniewinkel“, „heimliche“ oder auch „unheimliche Literaturhauptstadt“ inne.
Und wenn Peter Handke nicht seine schon damals kaum noch zu zählenden Notizbücher mit Textskizzen, Ideen, Zitaten oder spontanen Impressionen füllte oder als exzessiver Kinogeher nicht vor der Leinwand saß, dann war er stummer Stammgast bei den legendären Forum-Lesungen.

Der Schüchterne

Isoliert und schüchtern habe er gewirkt, „düster und mädchenhaft, meist hinten in einer Ecke sitzend“, erinnert sich „manuskripte-„ und Forum-Mitbegründer Alfred Kolleritsch, erster bedeutsamer Mentor und Förderer von Handke; beide verbindet seither eine innige Freundschaft, belegt auch durch eine Unzahl von Briefen.
1963 hatte es mit der Stummheit ein Ende. Nach einer Lesung des recht konservativen Autors Herbert Eisenreich reagierte Handke polemisch, impulsiv und verärgert. Er warf dem Schriftsteller unter anderem Geschwätzigkeit vor, gefolgt von einigen wüsten Beschimpfungen. „Die Verblüffung war groß“, auch über das „Feuer und die Leidenschaft“, die Handke so plötzlich und unerwartet ausstrahlte, sagt Kolleritsch in einem Rückblick. Eine der folgenreichen Konsequenzen: Er lud Handke ein, einen Text für die „manuskripte“ zu schreiben. Gesagt, getan. In der zehnten Ausgabe des Heftes erschien der kurze Prosatext „Die Überschwemmung“.

Kolleritsch sagt über das Debüt, dem ein Senkrechtstart mitten hinein in die internationale Literatur folgte: „Ich war zuerst ein bisschen befremdet von seiner erzählenden Schreibweise, weil das damals im Forum eher als rückschrittlich eingeteilt wurde. Wir anderen sind ja gerade wieder in die experimentelle Literatur hineingetaumelt. Aber wenn man dann in seine ersten Gedichte hineinschaut, war er ja fast radikaler als die sogenannte Moderne.“
Bald danach verfasste Handke, der schreibbesessene Einzelgänger, der sich endlich von der Grazer Gruppe verstanden und akzeptiert fühlte, regelmäßig für das ORF-Landesstudio Steiermark, unterstützt von seinem zweiten Grazer Förderer, dem Literaturchef Alfred Holzinger. Es waren Buchbesprechungen, Essays, halb ironische Features. Der erste Beitrag trug den Titel „Der Rausch durch die Beatles“, passend zu Handkes damaligem Lebensgefühl und Outfit. Aber bald fiel dabei auch einer jener Sätze, die prägend wurden für das immense literarische Schaffen Handkes: „Schreiben kann ein Versuch sein, die Welt zu erobern.“ Er tat und tut es, in einer unverwechselbaren Sprache.

Im Forum-Keller tippte Handke, der damals keine eigene Schreibmaschine besaß, täglich stundenlang an der Reinschrift seines ersten Romans, „Die Hornissen“. Das Werk wurde vom Luchterhand-Verlag abgelehnt, der Suhrkamp-Verlag griff danach zu, aber der Verlagsleiter Siegfried Unseld blieb skeptisch: „Ein wichtiger Erstling. Aber unverkäuflich.“ Ein Irrtum, nicht der einzige.
Dem Theater konnte Handke anfangs wenig abgewinnen. Als Reaktion schuf er mit der „Publikumsbeschimpfung“ angeblich unspielbares Anti-Theater. Die Uraufführung geriet zum Triumph und Eklat zugleich. Und der Theaterfeind Handke war oft im Grazer Schauspielhaus – wenn Libgart Schwarz auftrat, die er mehr als nur bewunderte. Die Zuneigung wurde erwidert, 1967 folgte die Heirat in Düsseldorf, der Ehe entstammt die Tochter Amina.

Bleibt noch einmal das Spiel vom Fragen. Was wäre wohl gewesen, wenn nicht Alfred Kolleritsch als Entdecker, Mentor, Bollwerk gegen reaktionäre Geister im Stillen und als Wegbereiter so Großes geleistet hätte? Der Geniewinkel Graz wäre nicht geworden, was er ist. Ein weitweit einzigartiges, einst anarchisches Dichterzentrum mit einer Autorin und einem Autor, die es zu Weltruhm und allerhöchsten Ehren brachten: Elfriede Jelinek und Peter Handke, Nobelpreisträger.