Herr Rushdie, Ihr neuer Roman „Quichotte“ hat ein hohes Tempo und wechselt ständig sein Erzähl-Universum. Das ist manchmal verwirrend.

SALMAN RUSHDIE: Es tut mir leid, dass Sie es schwierig gefunden haben. Aber ich wollte genau solch ein Buch, das im Laufe der Erzählung seine Natur ständig ändert. Wie leben in einer metamorphen Zeit. Die Dinge ändern sich schnell, oft auf schlitternde und verwirrende Weise. Es kann eine Liebesgeschichte, ein Spionageroman oder Sciencefiction sein und immer wechseln. Die Erzählung liefert dieses Gefühl der Transformation, in der wir gerade leben.

Sie schreiben über Einsamkeit, Drogen, Migration, Parallelwelten. Es klingt wie ein Roman über das Ende unserer Zeit. Fühlen Sie eine Endzeit-Stimmung?

RUSHDIE: Beim ersten Entwurf habe ich nicht realisiert, dass dieses Thema so bedeutend werden würde. Während des Schreibens stellte ich aber fest, dass es für den letzten Akt wichtig werden würde. Natürlich habe ich nachgedacht, warum ich das getan habe. In Sciencefiction Romanen ist das Ende der Welt ein übliches Thema. Aber es geht nicht wirklich um den Weltuntergang, sondern steht als Metapher für etwas anderes. Mein Roman handelt von der Sterblichkeit. Sowohl Quichotte als auch sein fiktiver Autor ringen mit allen möglichen Fragen der Sterblichkeit. In gewisser Weise ist es das Ende dieser Welt, aber auch des Lebens.

Wofür steht in dem Buch das Ende der Welt?

RUSHDIE: Damit drücke ich ein Gefühl aus, dass die Welt, wie ich sie kenne, die Welt, in der ich mein ganzes Leben lang gelebt habe, irgendwie bröckelt. Sie scheint Löcher zu bekommen. Das gilt nicht nur für die USA. Die Struktur der Gegebenheiten, wie wir sie bisher kannten, zerfällt. Und wir wissen nicht, was danach kommen wird. Auch der 9. November 1989 war ja solch ein Tag.

An dem wir genau 30 Jahre später am Brandenburger Tor sitzen, dort wo einst der Todesstreifen war und heute miteinander sprechen können...

RUSHDIE: Auch in diesem Moment zerbrach ein Gefüge. Wir hatten hatten uns an die Struktur des Kalten Krieges gewöhnt. Der Westen hier und die Sowjetunion dort drüben, zwischen beiden bestand ein Gleichgewicht. Und dann stürzte alles zusammen. Ursprünglich erschien das wie ein Moment großer Befreiung, voller Optimismus und Möglichkeiten. Und doch hat sich nicht ganz so entwickelt, wie es damals aussah. Aber ich spreche ja von etwas weit Tragischerem. Es geht um die Zerstörung der Gegebenheiten, die wir alle in unserem ganzen Leben erlebt haben. Dieses Ende meine ich, wenn ich über das Weltende spreche. Zudem hatte ich auch die Umwelt im Sinne. Denn es ist tatsächlich möglich, dass es ein Ende der Welt gibt, wenn wir an einen unumkehrbaren Wendepunkt kommen, an dem das Gewebe unserer Welt buchstäblich zu zerfallen beginnt.

Was bedeutet es Ihnen am 30. Jahrestag des Mauerfalls in Berlin zu sein und und eine erfolgreiche Revolution zu feiern?

RUSHDIE: Es war großartig, als ich sah, dass es auf meiner Lesetour möglich ist. Jeder auf der Welt hat das vor 30 Jahren im Fernsehen gesehen. Ich war auch schon an der ehemaligen Mauer und habe mich erinnert, wie das in den frühen 80er Jahren war. Damals war ich ein- oder zweimal in Berlin, in West und Ost. Ich wusste also, wie es ist die Mauer zu passieren. Der außergewöhnlichste Unterschied waren die Graffiti im Westen, während die Mauer im Osten blitzblank war. Aber auch alle Zeitungen und Magazine waren völlig anders. West-Berlin war diese pulsierende, überfüllte Stadt. Und auf der anderen Seite, Unter den Linden, gab es so wenige Autos, dass ich mir vorstellte, ich könnte mit verbundenen Augen über die Straße gehen und würde nicht getroffen. Nun zurückzukehren und die Stadt vereint zu sehen, war sehr kraftvoll. Nach dem Mauerfall passierte eine Transformation mit unglaublicher Geschwindigkeit. Auf solch eine Metamorphose möchte ich im Buch ja hinweisen. Was in Berlin passiert, ist eine Miniatur von dem, was überall passiert.

Viele Leute dachten damals, 1989 sei das Ende einer Epoche. Die offene, liberale Gesellschaft hätte auf lange Sicht gewonnen. Aber es scheint, als hätten sie es nicht getan. Sie beschreiben im Buch die Folgen. Was war der Fehler damals?

RUSHDIE: Die Antwort ist natürlich ausufernd. Ein wichtiger Punkt aber ist, wie Menschen auf den zunehmenden Strukturzerfall der Welt reagieren, wie sie sie gewohnt sind. Ja, ich kann mich zunächst befreit und begeistert fühlen. Aber oft kommt dann ein Gefühl der Unsicherheit hinzu. Menschen ziehen sich in andere Formen von Mauern zurück. Anstelle einer großen Mauer zwischen der Sowjetunion und dem Westen flüchteten sie in die Mauern von Stammesdenken und Populismus. Dort verbarrikadieren sie sich gegen die Unsicherheit des Neuen. Von etlichen Europäern wird dieser Moment der Befreiung heute ja sogar als exakt das Gegenteil davon gesehen. Das Phänomen von menschlicher Panik vor Veränderungen lässt sie in all das zurückziehen, was wir gerade erleben. Der Wunsch nach einer starken Führungsfigur, der Rückzug in engstirnige populistische Ideen und in Fremdenfeindlichkeit. All dies sind die Konsequenzen daraus, dass Menschen nicht mehr in der Lage sind, große Dinge zu erfassen und sich eine schmale Form schaffen, die sie verstehen.

Interview vor dem Brandenburger Tor am 9. November
Interview vor dem Brandenburger Tor am 9. November © Gebhardt

Wie sind Sie auf Geschichte gekommen?

RUSHDIE: Das war merkwürdig. Zunächst wollte ich ein Sachbuch schreiben. Ich stellte mir vor, ich könne ein Auto mieten und durch Amerika fahren. Ich wollte einen meiner beiden Söhne fragen, der jüngere ist 22 und war damals 17, ob er daran interessiert ist, die Reise mit mir zu machen und eine andere Generationsperspektive zu bekommen. Wir könnten durch Amerika fahren, schauen was passiert und darüber schreiben. Auch wie wir reden und fühlen. Doch ich wusste schnell, dass das nicht meine Natur ist. Ich bin kein Reiseschriftsteller. Ich möchte meine Vorstellungskraft nutzen und nicht nur der Gnade ausgeliefert sein, was passieren könnte und was nicht.

Warum haben Sie für Don Quichotte entschieden?

RUSHDIE: Damals wurde ich zufällig gebeten, über Cervantes zu schreiben, weil sein Todestag bevorstand. Ich habe deshalb nach langer Zeit wieder „Don Quichotte“ gelesen. Dabei dachte ich: Oh, das sind interessante Augen, durch die ich jene Welt sehen kann, wie ich sie beschreiben will. Schnell kamen mir dann die Charaktere in den Kopf und auch wie Quichotte und Sancho Panza nicht sein sollen. So hat Quichotte bei Cervantes etwas melancholisches. Er wird Ritter der traurigen Gestalt genannt. Während mein Charakter absurd optimistisch und fröhlich ist. Sancho ist im Gegensatz zu Cervantes ein Sohn, den Quichotte erfindet und der bei mir mehr mit Pinocchio zu tun hat. Cervantes gibt mir nur einen Ausgangspunkt. Dann gehört die Reise, die ich unternehme, mir. Und auch die Figuren entwickeln sich selbstständig.

Welche Reise unternehmen die beiden?

RUSHDIE: Der Ausgangspunkt war, dass Cervantes Aspekte der Kultur seiner Zeit satirisch darstellte. All diese romantischen Romane hielt er schlecht für die Menschen. Gehirn und Charakter verrotten, wenn man diese Bücher liest. Ich stellte mir also die Frage: Wenn ich all das hunderte Jahre weiter in die Jetztzeit transportieren will, was wäre dann das Ziel? Es sind eindeutig keine romantische Romane mehr. Dann kam mir die Idee mit den Medien, wobei Reality-TV dieses repräsentieren könnte. Ich fand es lustig, dass mein Quichotte durch Schund-Sendungen in den Wahnsinn getrieben wird, so wie Cervantes' Quichotte durch Schrott-Bücher verrückt gemacht wurde. Beim Nachlesen von Cervantes wurde ich aber gewahr, dass er noch andere Verrücktheit meint. Je verrückter Quichotte wird, desto heiliger wird er aber in der Welt, die um ihn herum ist. Das war für mich eine interessante Idee, die ich mir geliehen habe. Deshalb schicke ich diesen verrückten alten Narr durch Amerika und wir fühlen, dass Amerika noch verrückter ist als er. Es ist eigentlich die Welt, in der er sich befindet, die so verrückt ist. Ich wollte aber nicht buchstäblich eng mit den Aktionen von Don Quichotte verbunden sein, ich wollte die Windmühlen nicht nachstellen oder was auch immer sein mag. Das interessiert mich nicht besonders.

Ihr anderer Charakter „Bruder“, der fiktive Autor der Geschichte von Quichotte, resümiert über das Leben. Selbst die reichste Mine enthält eines Tages kein Gold mehr. Spielt die Figur mit Ihrer eigenen Biographie?

RUSHDIE: Ja, ein wenig. Außer, dass ich kein schlechter Spionageautor bin (lacht).

Spüren Sie, dass diese Ära der Leere auf Sie zukommt?

RUSHDIE: Nein, ich hoffe nicht. Es mein 19. Buch. Eines davon mit Kurzgeschichten und vier Sachbücher. Das ist jetzt der 14. Roman. Aber es gibt eine Angst, die alle Schriftsteller haben. Selbst wenn du viel jünger bist, denkst du jedes Mal nach der Abgabe, dass jetzt keine Bücher mehr in dir schlummern. Du hast immer Angst, dass dir die Ideen ausgehen. Als ich noch sehr jung war, um die Zeit, als Mitternachtskinder herauskam, traf ich Kurt Vonnegut in New York und wir verbrachten ein wenig Zeit miteinander. Er fragt mich, ob ich es ernst meine mit dem Schreiben. Und ich sagte, ja, das tue ich. Und er fuhr fort: Nun, es wird der Tag kommen, an dem du ein Buch schreiben musst und keines zu schreiben hast. Aber noch bin ich nicht am Ende. (Er klopfte auf Holz.)

Sie spielen mit dem Wechsel zwischen Fiktion und Realität. Haben sich zu viele Menschen in westlichen Gesellschaften darin verirrt?

RUSHDIE: Vielen fällt es schwerer, zwischen Fiktion und Realität zu unterscheiden. Aber lassen Sie mich das präzisieren: Nicht zwischen Fiktion und Realität sondern zwischen Lüge und Wahrheit. Weil es einen Unterschied zwischen Fiktion und Lüge gibt. Der Zweck jeder guten Fiktion ist es, die Wahrheit zu sagen. Es sagt Wahres über Menschen aus, was wir mögen, wie wir handeln, was wir füreinander tun, welche Art von Gesellschaften wir aufbauen, in welchen Welten wir leben. Sogar das Ansinnen von meisterhaften Fantasie-Erzählern war wahrhaft. Der Zweck ist die Wahrheit. Du kannst dafür allerdings viele Wege gehen und musst nicht die Reportagen wählen. Du kannst auch durch imaginäre Türen gehen. Der Zweck der Kunst ist immer noch die Wahrheit. Der Zweck von Lügen ist es, die Wahrheit zu verdunkeln. Das ist nicht dasselbe. Wir leben in einer Zeit, die viel Unwahrheit enthält. Sie werden uns von allen möglichen Seiten verkauft, nicht nur von Politikern.

Wie geschieht das?

RUSHDIE: Wir haben uns neuen Medien erschaffen, die angeblich Informationsmedien sein sollen, die aber mehr Desinformationsmedien sind. Wir erleben, wie skrupellose Menschen dieses Medium nutzen, um Unwahrheit zu verbreiten. Sie setzen sie derart machtvoll in die Welt, dass viele Menschen sie inzwischen als Wahrheit aufnehmen. In solch einer Welt ist es für Menschen immer schwieriger zwischen Wahrheit und Lüge zu unterscheiden. Das ist ein kultureller Wahnsinn und den übertrage ich in das Buch. Das ist der kleine Wahnsinn von Quichotte und der größere Wahnsinn einer Kultur, die die Fähigkeit verloren hat, Fakten von Unwahrheiten zu unterscheiden.

C. Bertelsmann. 464 Seiten. 25,70 Euro.
C. Bertelsmann. 464 Seiten. 25,70 Euro. © Gebhardt

Sie beschreiben diesen Wahnsinn aber humorvoll.

RUSHDIE: Ich will mich lustig machen. Ich hasse Bücher, die didaktisch sind und predigen. Ich mag keine Bücher, die mir sagen, was ich denken soll. Die Stärke von Literatur liegt darin, eine eigene Welt zu schaffen. Zuerst einmal eine, die der Leser gerne bewohnen will. Aber diese literarische Welt ist sichtbar mit der realen Welt verbunden und stellt darüber Fragen zu diese Welt. Ich mag Bücher, die intelligente Fragen stellen, über die man als Leser nachdenken muss. Die Form sollte leicht sein.

Haben Sie ein Beispiel dafür?

RUSHDIE: Einer meiner literarischen Helden war der italienische Schriftsteller Italo Calvino, der sehr ermutigend für mich als junger Schriftsteller war. Einer seiner späten Essays beschrieb das, was er für die höchsten literarischen Werte hielt. Es waren fünf. Eine nannte er Leichtigkeit und eine Schnelligkeit. Für mich soll sich ein Buch so anfühlen. Es gibt auch eine andere Form, dieses Buch zu schreiben, aber die wäre mindestens doppelt so lang. Das wäre dann aber ein Buch, wie ich es genau nicht schreiben wollte.

In den USA haben wir mit Donald Trump einen Präsidenten, der mit Wahrheit und Lüge spielt.

RUSHDIE: Ja, sehr sogar.

Wie hat dies bereits das Land verändert?

RUSHDIE: Es hat nicht viel daran geändert, wie ohnehin schon war. Er hat es nur intensiviert. Die Spaltung Amerikas gab es schon vor Trump, sowohl die Rassentrennung als auch die politische Teilung zwischen liberal progressiv und ultrakonservativ. Deshalb kommt Trump auch im Buch nicht vor, weil mir wichtig ist, dass dieses gespaltene Land sowieso existiert. In gewisser Weise ist er bis zu einem gewissen Grad ein Effekt und nicht die Ursache. Aber er hat das Potenzial dann ausgeschöpft, in dem er die Menschen vor allem verwirrt.

Wie?

RUSHDIE: Er scheint es schwierig zu finden, die Wahrheit zu sagen. Er öffnet nur seinen Mund und schon kommt eine Lüge heraus. Die Lüge scheint seine natürliche Form zu sein. So wie er zum Beispiel über den Tod von al-Bagdhadi sprach, wie dieser wimmerte und starb wie ein Hund. Später erfuhren wir dann, dass es keinen Ton zu dem Video gab, das Trump gesehen hat. Er war in der Lage, Und nicht einmal eine Kamera im Tunnel, wo al-Baghdadi starb. Also hat er ihn nicht einmal gesehen. Dennoch konnte er ihn so leibhaftig beschreiben. Es ist eine Lüge. Aber sie klingt so selbstverständlich. Das Problem ist, dass er diese ausgesprochen loyale, weitgehend weiße männliche Basis hat. Die schluckt alles. Das hat das Problem verschlimmert.

Woran merkt man das konkret?

RUSHDIE: Weil die Postionen so weit unvereinbar auseinander driften. Viele Leute sind extrem besorgt über den Klimawandel, andere leugnet, dass es einen Klimawandel überhaupt gibt. Einige wissen, dass Impfungen notwendig sind, um Krankheiten nicht zurückkehren zu lassen, andere denken, dass Impfungen ein Maßnahme der Wissenschaft sind, die Menschen schädigen sollen. Wenn du eine Kluft hast, die man wachsen lässt, wird das irgendwann schwer noch zu überbrücken. Selbst wenn Trump morgen verschwinden würde, wäre dieses Problem weiterhin da. Es wird eine Generation dauern, bis dieses Land wieder zusammenwächst, wenn es das jemals tut.

Manchmal klingt es für uns urkomisch, wenn Trump lügt, weil wir offensichtlich wissen, dass er lügt, aber es ist andererseits gefährlich.

RUSHDIE: Es ist lustig und nicht lustig zur gleichen Zeit. Das ist das Bemerkenswerte daran. Für mich ist es lustig, weil er ein Narr ist. Aber er ist ein Clown, der Präsident der Vereinigten Staaten ist. Das macht es nicht lustig.

Ist es schwierig, darüber zu schreiben, weil man die lustige Geschichte im wirklichen Leben hat?

RUSHDIE: Trump selbst ist für mich als Charakter nicht sehr interessant. Manchmal denke ich, dass er eher eine Performance ist. Eine Reihe von Auftritten, die abhängig von seiner Stimmung sind und davon, was ihm gerade nützlich erscheint. Als Schriftsteller braucht man einen Charakter, der kohärent ist. Trump ist nicht schlüssig, er ist als Mensch unzusammenhängend.

Realsatire?

RUSHDIE: Viele sagen in diesen Tagen, dass Satire schwerer zu schreiben ist. Die Realität sei viel bizarrer als alles, was man sich vorstellen kann. Ich erkenne die Wahrheit im Kern. Aber eigentlich denke ich, dass Komödien manchmal tiefer gehen als Ernsthaftigkeit. Nachts schaue ich mir gerne Talkshows mit Stephen Colbert oder Trevor Noah an. Sie dringen oft tiefer in die Wahrheit ein als Meinungsartikel in der Zeitung am nächsten Morgen. Manchmal hat die Komödie die Fähigkeit, schärfer und eindringlicher zu sein. Es ist ein wichtiger Grund, dass Machthaber sie so genau anschauen. Es ist absolut charakteristisch für alle autoritären Herrscher, dass sie es nicht mögen, wenn man über sie lacht. Das ist ein wahrlich guter Grund, sie auszulachen.

Sie haben kürzlich über drei Städte Ihres Lebens gesprochen: New York, London und Bombay. Alle drei befinden sich in politisch turbulenten Zeiten. Sind die Situationen vergleichbar?

RUSHDIE: Oberflächlich nicht, sie haben große lokale Unterschiede. Aber gemeinsam haben sie gewissenlose Staatsführer, die ein Märchen über die Vergangenheit erfunden haben, um Handlungen in der Gegenwart zu rechtfertigen. In Indien pflegen die Nationalisten den Traum von einer glorreichen hinduistischen Vergangenheit, der Herrschaft des Ramayana. Sie argumentieren damit, dass die Ankunft der muslimischen Eroberer diese Vergangenheit zerstört habe und man nun eine Rückkehr brauche. Das ist ein mythologisches Paradies vor 1000 Jahren. Ebenso spricht Trump darüber, Amerika wieder groß zu machen. Er erfindet die Idee einer glorreichen Vergangenheit. Man könne in dieses bessere Leben zurückkehren, wenn nur weiße Männer die Welt beherrschen würden.

Und in Großbritannien, wohin Sie Ihr Vater schickte für die Schulausbildung?

RUSHDIE: In England – und es ist wirklich nur England und nicht Schottland oder Irland - gibt es wieder eine Fantasie eines goldenen Zeitalters. Das könnte wiederhergestellt werden, wenn nur all diese schrecklichen Ausländer weggingen. Was aber in dieser Geschichte nie erwähnt wird, ist der Kolonialismus. Ist die Tatsache, dass die Briten so sehr von der Ausbeutung der Reichtümer eines großen Teils der Welt profitiert haben. Sie denken nur, dass plötzlich dieses goldene Zeitalter zurückkehren wird, wenn man die polnischen Gastarbeiter loswerde. Ebenfalls ein Mythos wie die beiden anderen Beispiele.

Wir sprechen auch über Probleme in den Regionen, in denen die Briten die Grenzen gezogen haben als sie die Herrschaft übergaben, wie Indien und Pakistan oder den Nahen Osten.

RUSHDIE: Diese Zeichnung war für viele der großen Katastrophen in der Nachfolgezeit verantwortlich. Ihr Zeichnungen auf Karten, die über Länder entschieden, sind für die Hälfte aller Kriege verantwortlich. Im Vereinigten Königreich wird über den Kolonialismus nicht gesprochen. Ich habe zwei Söhne, die das englische Bildungssystem in guten Schulen durchlaufen haben. Es gab aber nicht eine einzige Lektion in der gesamten Ausbildung über das britische Empire. Sie haben eine Generationen, die ohne jede Aufklärung über die wichtigsten Fakten der Geschichte ihres Landes aufgewachsen sind. Sie verstehe nicht, warum es einen rassischen Pluralismus in ihrem Land gibt. Wenn Sie die Geschichte nicht kennen, gibt es keine Antwort auf die Frage, warum all die Inder und Pakistani im Land sind. Schlechte Bildung ist ein Probleme in allen drei Ländern.

Auch in Indien?

RUSHDIE: Im Moment hat diese Regierung ein großes Projekt. Sie wollen die muslimische Vergangenheit aus den Lehrbüchern löschen oder sie als Katastrophe präsentieren. In gleicher Weise wurden die Lehrbücher in der Kolonialzeit geschrieben. Die Briten waren die Helden während der Rebellion der Inder. Die Bücher wurden nach der Unabhängigkeit neu geschrieben und jetzt noch einmal mit den Augen der Ideologie des indischen Nationalismus.

Welches Land könnte das Problem leichter lösen?

RUSHDIE: Seltsamerweise bin ich optimistischer für die USA. Aber das wird aufhören, wenn Trump wiedergewählt wird. Noch gibt es eine Möglichkeit, die Situation zu retten. Trumps Sieg in den nördlichen Industriestaaten beruht ja nur auf sehr geringen Vorsprüngen. Auch ohne das aktuelle Amtsenthebungsverfahren ist er schlagbar. Was aber nicht heißt, dass er besiegt wird. Die Fähigkeit der demokratischen Parteien, ihre eigenen Chancen zu zerstören, ist legendär. Es ist wie eine Art Selbstmordwunsch. Wenn der Kandidat der Demokraten stark ist und die Kampagne gut, kabb sich die Situation in Amerika in einem Jahr ändern.

Für Großbritannien und Indien sind sie weniger optimistisch?

RUSHDIE: Die Katastrophe des Brexits wird kommen. Es gibt keine entscheidende Partei, die wirklich versucht, dies zu verhindern. Jeremy Corbyn kommt aus dem alten britischen linken Trotzki-Denken. Er denkt, dass Europa ein reicher Männerclub ist und nicht zugunsten der Arbeiter handelt. Er wird nicht für die EU kämpfen, weil er nie ein überzeugter Europäer war. Die liberalen Demokraten sind nicht mächtig genug. Was einen bei Boris Johnson zurücklässt. Und dann bricht ein Gefüge für eine Generation zusammen. Selbst wenn fünf Jahre nach dem Brexit eine Partei in England an die Macht kommt, die das umkehren will, bin ich mir nicht sicher, ob Europa sie wieder willkommen heißt. In Indien ist das Problem, dass Narendra Modi nun zwei Erdrutschsiege errungen hat. Die Opposition ist sehr schwach. Ich sehe nichts, was Indiens Weg in naher Zukunft umgekehrt wird. Es ist eine sehr beunruhigende und antidemokratische Richtung.

Das arabische Frühjahr 2011 war das Gegenteil der 89er Revolution. Es endet mit Krieg, Chaos und einer Stärkung des muslimischen Fundamentalismus. War das vorhersehbar?

RUSHDIE: Nein. Eigentlich möchte ich auch nicht viel darüber erzählen, weil ich kein Experte für diese Region bin. Ich bin nie in diesen Länder gereist und kenne die Realität dort nicht. Ich werde oft gefragt als Experte, weil man denkt, ich sei einer, bin es aber nicht. Allerdings war der Arabische Frühling so etwa wie der Fall der Mauer. Es war ein Moment der Hoffnung. Und wie beim Fall der Mauer folgte eine Realität, die dieser Hoffnung widersprach. Es gibt dort auch eine Art Echo. Die Reaktionskräfte erwiesen sich als stärker als die Kräfte des Fortschritts. Ob das nun dauerhaft ist? Ich weiß es nicht.

Aber die Auswirkungen sind groß für die westlichen Länder.

RUSHDIE: Die europäischen Länder sind historisch gesehen und auch heute noch mit den Kräften der Unterdrückung ins Bett gegangen. Die Tatsache, dass der Westen Saudi-Arabien als Verbündeten sieht, ist in meinen Augen ein Problem. Der Westen hat immer starke Diktatoren im Mittleren Osten unterstützt.

Sie sprechen nicht gerne über die Auswirkungen des Jahres 1989 auf Ihr Leben, als das iranische Regime eine Todesdrohung gegen Sie aussprach und sie in den Untergrund gehen mussten. Für mich wirkt es so, als benutzten Sie Humor immer als Waffe gegen alle Tiefschläge. Habe ich Recht?

RUSHDIE: Es kommt von selbst aus mir heraus. Es ist nicht so, dass ich darüber nachdenke. Ich glaube, die Komödie hat viel mit dem Menschsein zu tun. Wir sind in der Lage, über den Tod zu lachen. Die Komödie ist sehr kraftvoll. Ich lese ungerne Bücher, die keinen Sinn für Humor haben. Es gibt einige große Schriftsteller, mit denen ich wegen ihrer Humorlosigkeit große Probleme habe. George Eliott zum Beispiel.

Aber ist Humor eine Möglichkeit für Sie, mit Ihren großen Herausforderungen im Leben umzugehen?

RUSHDIE: Ich weiß es nicht. Die Gedanken daran sind ja nicht sehr schön. So reagiere ich eben. Ehrlich gesagt, diese furchtbare Zeit in meinem Leben war wirklich sehr hart für mich. Aber das ist schon so lange her, dass ich tatsächlich kaum noch zum Denken darüber fähig bin. Der Zeitraum danach hat nun schon doppelt so lang gedauert wie diese Phase selbst. Es dauerte ungefähr zehn Jahre und es ist nun ungefähr zwanzig Jahre vorbei. Es fühlt sich für mich wie längst altertümliche Geschichte an. Oder um es auf eine einfachere Art und Weise auszudrücken: Wir sprachen über die Anzahl meiner Bücher. Die Satanischen Verse waren der vierte Roman, den ich veröffentlichte. Quichotte ist der 14. Roman. Den größten Teil meines Lebens als Schriftsteller habe ich also danach verbracht. Deshalb mag ich es nicht, in diesem Moment noch immer zu verharren. Das ist lange her.

Ist es etwas, das Sie im Sinn haben, wenn Sie vielleicht von den Atomplänen des Iran hören?

RUSHDIE: Nein, ich versuche, wenn möglich überhaupt nicht an den Iran zu denken.