Wenn es denn stimmt, dass Landschaften stets auch ein Bildnis und ein Zustand der Seele sind (und wer vermag ernsthaft daran zu zweifeln?), dann liefert Norwegen die markantesten und präzisesten literarischen Seelenlandschaften. Doch nichts ist darin zu verspüren von der Ansichtskarten-Idylle, von den reichlich vorhandenen Sehnsuchtsorten, den magischen Naturschauspielen, der wunderbaren Weite.

Es sind Gegenpositionen, es ist ein Aufbegehren gegen oft trügerisch schönen Schein, es sind Alltagsbefunde, die in tiefe, zerklüftete Abgründe führen. Das war bei Henrik Ibsen so, der mit Komödien nichts im Sinn hatte und mit „Der Volksfeind“ einen Umweltskandal von zeitloser Gültigkeit zum Thema seines Dramas machte. Das war beim Literaturnobelpreisträger Knut Hamsun, der, reichlich betagt, einen Charakterinfarkt erlitt und mit den Nazis sympathisierte, nicht anders. Dennoch: Mit „Hunger“ öffnete er das Tor zur Moderne, Franz Kafka und später Samuel Beckett ließen sich von ihm inspirieren.

Viel Licht, viel Schatten

Das Wort Trost existiert selten bis gar nicht. Das mag erstaunen, allerdings nur auf den ersten Blick. Schließlich zählt Norwegen seit Jahren zu jenen Ländern, in denen angeblich die glücklichsten Menschen weltweit leben. Aber das Glück lässt sich nicht flächendeckend verteilen, der durchaus vorhandene Reichtum auch nicht. Wo viel Licht ist, da ist auch viel Schatten. In diesem Schattenreich ist die aktuelle norwegische Literatur weitgehend angesiedelt. Einige Gegenwartsautoren und Autorinnen aus dem Land der Wikinger brachten und bringen es immer wieder zu Weltgeltung, etwa der schonungslose und radikale Selbst-Sezierer Karl Ove Knausgård oder Jostein Gaarder, der poetische Mister Universum aus dem hohen Norden, in der Kriminalliteratur setzte Jo Nesbø neue Maßstäbe. Auch die Umweltaktivistin Maja Lunde, Tomas Espedal, Erik Fosnes Hansen, Lars Mytting oder der exzellente Dramatiker und Romancier Jon Fosse, um nur einige weitere Namen zu nennen, sind imposante Fixgrößen in der internationalen Gegenwartsliteratur.

Endstation Hoffnungslosigkeit

Nun aber, durch die Präsenz Norwegens als Gastland bei der Frankfurter Buchmesse, bietet sich durch mehr als 400 Neu-Übersetzungen die Chance zu weiteren grandiosen literarischen Entdeckungsreisen, die allerdings nicht selten zur Endstation Hoffnungslosigkeit führen. Familiäre Enge, die in Tragödien mündet, Einsamkeit, die Gewalt der Natur, aber auch deren Zerstörung oder unüberwindbare Trauer, das sind zentrale Themen.

Nicht um harmonische Schönheit geht es, sondern um bedingungslose Wahrheit. Diese seelischen Tiefenbohrungen können bekanntlich schmerzhaft, aber auch befreiend sein. „Der Traum in uns“ – so betitelt Norwegen seinen Auftritt in Frankfurt, wohl wissend, dass zuerst reale Albträume aus dem Weg geräumt werden müssen.