Ute Baumhackl:

Einfach ran ans Problem!
Was ist ein alter weißer Mann? Der so reaktionäre wie mächtige Vertreter eines oppressiven Systems, so das Klischeebild. Das hinterfragt Sophie Passmann. Die Mittzwanzigerin macht in Sachen Feminismus vor, wie man als junger Mensch mit drängenden Fragen heute umgehen sollte: Ran ans Problem! Also trifft sie sich mit 15 alten weißen Männern und bespricht Geschlechterfragen.
Sophie Passmann. Alte weiße Männer. KiWi Taschenbuch,
288 Seiten, 12,40 Euro.

Jetzt geht es ans Eingemachte
Der Anfang ist nichts für 35-Grad-Tage am Strand: Man kämpft sich mit Kate Manne erst einmal durchs Dickicht der Begriffsklärung zwischen Feminismus und Sexismus, ehe dieMoralphilosophin ans Eingemachte geht. Überzeugend argumentiert sie die Durchdringung gesellschaftlicher Strukturen mit dem, was als „gutes“ und „schlechtes“ weibliches Verhalten wahrgenommen wird.
Kate Manne. Down Girl. Die Logik der Misogynie. Suhrkamp, 500 Seiten, 32,90 Euro.

Der Favorit: Orlando
Junger Adeliger im elisabethanischen England verwandelt sich über Nacht in eine Frau. „Orlando“ gilt zu Recht als einer der großen Influencer der Moderne.
Virginia Woolf.Orlando. Verlag S. Fischer. 262 Seiten, 20,50 Euro.

"Orlando" von Virginia Woolf ist der Favorit von Ute Baumhackl
"Orlando" von Virginia Woolf ist der Favorit von Ute Baumhackl © Verlag S. Fischer

Martin Gasser:

Unsentimentale Reise einer Frau
James M. Cain war einer der großen Autoren der US-„Hardboiled“-Schule des Kriminalromans. Sein nun neu erschienenes Meisterwerk „Mildred Pierce“ kommt ohne klassische Krimihandlung aus und ist doch von Spannung getragen. Schnörkellos, voller überraschender Einsichten erzählt er die Geschichte der Selfmadefrau Mildred Pierce und der zahllosen Fallen, die das Leben stellt.
James M. Cain.Mildred Pierce. Arche. 416 Seiten. 22,70 Euro.

Mehr als bloß eine Etüde
Ein stummes Kind und seine verstummte Mutter finden dank eines Klaviers ins Leben. Nur eine der wunderbaren Geschichten aus den Erinnerungen von Autor und Pianist Hanns-Josef Ortheil darüber, wie er selbst zur Musik gekommen ist. Offen, unsentimental erzählt er von der Kunst, vom Spielen und vom Scheitern.
Hanns-Josef Orhteil.Wie ich Klavier spielen lernte. Insel Verlag, 318 Seiten. 24,70 Euro.

Der Favorit: Zazie in der Metro

Eigentlich unübersetzbar, aber nun wurde es neu versucht: Der anarchistische Klassiker, verspielt und launisch wie seine Titelheldin.
Raymond Queneau.Zazie in der Metro. Suhrkamp. 240 Seiten. 22,70 Euro.

Der Favorit von Martin Gasser: Zazie in der Metro
Der Favorit von Martin Gasser: Zazie in der Metro © Suhrkamp Verlag

Marianne Fischer:

Bis in die oberen Parlamentskreise
Die Krimis rund um den sympathisch-knurrigen, einbeinigen Privatdetektiv Cormoran Strike stehen in der Tradition bester englischer Detektivromane – und kommen aus der Feder von Robert Galbraith alias Joanne K. Rowling. Diesmal geht’s bis in die oberen Kreise des Parlaments und tief ins Privatleben der Figuren hinein. Spannende Unterhaltung für gleich mehrere Tage am Strand.
Robert Galbraith.Weißer Tod. Blanvalet. 864 S., 24.70 Euro.

Eine blitzgescheite Lügnerin
Was für eine Figur! Eva Gruber ist eine pathologische Lügnerin, manipulativ, blitzgescheit und ihrem „Wahnsinn“ (der sie in die psychiatrische Abteilung des Otto-Wagner-Spitals in Wien bringt) wohnt eine klare Logik inne: Sie will ihren Bruder retten, der in der Anstalt wegen massiver Verhaltensstörungen behandelt wird. Freches, trotziges Debüt einer jungen Kärntnerin, das lange nachhallt.
Angela Lehner.Vater unser. Hanser, 288 Seiten, 22.70 Euro.

Der Favorit: Maigret im Haus der Unruhe

Endlich ist auch der allererste Fall von Maigret auf Deutsch erschienen. Eine Einladung, sich quer durchs Werk
zu lesen.
Georges Simenon.Maigret im Haus der Unruhe. Kampa. 224 Seiten, 17.40 Euro.

Favorit von Marianne Fischer: Maigret im Haus der Unruhe
Favorit von Marianne Fischer: Maigret im Haus der Unruhe © Kampa Verlag

Werner Krause:

Mittendrin im Sturm auf die Bastille
Die Kunst der historischen Tiefenbohrung, direkt, unkonventionell, präzise – keiner beherrscht sie besser als der Franzose Éric Vuillard. Knapp 130 Seiten genügen ihm, um in „14. Juli“ den Sturm auf die Bastille 1789 zu schildern. Mit einem anscheinend simplen Trick. Seine Leserinnen und Leser werden Teil der Masse, die Anführer werden nur knapp erwähnt. Emotional, mitreißend, mit viel Nachhall.
E. Vuillard.14. Juli. Matthes & Seitz, 135 Seiten, 18,50.

Ein Seismograph für soziale Beben
Ein Krimi sollte schon dabei sein, da führt kein Weg vorbei an Friedrich Ani. Er braucht keine billige Action, keine Cliffhanger, er ist mit seinen brisanten gesellschaftlichen Befunden stets hautnah an der Realität; ein Seismograph für beängstigende Beben. „All die unbewohnten Zimmer“ führt ins rechtsextreme Lager und konfrontiert mit blindwütigem Fremdenhass.
Friedrich Ani.All die unbewohnten Zimmer. Suhrkamp, 494 Seiten, 22,70 Euro.

Der Favorit: Die Rache der Natur
Archaisch, wuchtig, anklagend – Victor Hugos „Arbeiter des Meeres“, vor einiger Zeit neu übersetzt, gleicht einem literarischen Orkan.
Victor Hugo.Die Arbeiter des Meeres. mare. Neuübersetzung R. G. Schmidt. 663 Seiten, 49,40 Euro.

Favorit von Werner Krause: Die Rache der Natur
Favorit von Werner Krause: Die Rache der Natur © mare Verlag

Uschi Loigge:

Die langen Schatten der Kolonialzeit
Vor der Tür der Lehrerin Ilaria sitzt ein junger Afrikaner, der behauptet, mit ihr verwandt zu sein. In seinem Ausweis steht der Name
ihres Vaters: Attilio Profeti. Die Autorin verknüpft die unfassbare Geschichte der Familie Profeti mit verdrängter italienischer Kolonialgeschichte (Abessinien) und aktuellen Konflikten (den menschenunwürdigen Lagern in Libyen). Grandios!
Francesca Melandri.Alle, außer mir. Wagenbach, 603 Seiten, 26,80 Euro.

Dichtes Netz von Handlungsfäden
Das fesselt an die Sonnenliege: Eine neugierige Journalistin bringt Jesse Rosenberg dazu, einen 20 Jahre zurückliegenden Fall wieder aufzurollen. Der Autor wiederholt, was in seinem Debüt mit „Harry Quebert“ bestens funktioniert hat: überraschende Wendungen, Perspektivenwechsel, exaktes Timing, viele Teufel im Detail. Geschickt gemacht. Spannend bis zum Schluss.
Joël Dicker.Das Verschwinden der Stephanie Mailer. Piper, 672 Seiten, 24,70 Euro.

Der Favorit: Abenteuerliche Reise durch mein Zimmer
Beflügelnd: eine Bibliothek und Gegenstände als Auslöser für spannende Expeditionsberichte.
Karl-Markus Gauß.Abenteuerliche Reise durch mein Zimmer. Zsolnay,
221 Seiten, 22 Euro.

Favorit von Uschi Loigge: Abenteuerliche Reise durch mein Zimmer
Favorit von Uschi Loigge: Abenteuerliche Reise durch mein Zimmer © Zsnolnay Verlag

Bernd Melichar:

Das Feuer lodert flächendeckend
Wir schreiben die 20er- und 30er-Jahre: Ein renommiertes Pariser Bankhaus stürzt in sich zusammen – und fast gleichzeitig kollabiert Europa. Wie Pierre Lemaitre die menschlichen und politischen Katastrophen miteinander verwebt, ist ganz große Erzählkunst. Das Porträt einer starken Frau, die das Feuer überlebt.
Pierre Lemaitre.Die Farben des Feuers. Klett-Cotta, 479 Seiten, 25,80 Euro.

Das schwere Gewicht der Welt

Hochgeschätzt von Kritikern, aber beim Lesepublikum leider noch immer nicht ganz angekommen. Diesmal schickt der österreichische Autor einen orientierungslosen Journalisten zurück ins Heimatkaff, doch der Kompass spielt auch dort verrückt. Die Affären sind uferlos, die Beziehungen zur Umwelt haltlos. Der ruhige Ton verleiht dem Ballast des Lebens noch mehr Gewicht.
Reinhard Kaiser-Mühlecker.Enteignung. S. Fischer, 224 Seiten, 21,60 Euro.

Der Favorit: Das Sanatorium zur Sanduhr

Mit den „Zimtläden“ öffnete er die Fenster in eine fantastische Parallelwelt, hier liegt die Zeit auf dem Seziertisch.
Brundo Schulz.Das Sanatorium zur Sanduhr. Hanser, 368 Seiten, 25,60 Euro.

Favorit von Bernd Melichar: Das Sanatorium zur Sanduhr
Favorit von Bernd Melichar: Das Sanatorium zur Sanduhr © Hanser Verlag

Michael Tschida:

Erkundungen einer Rätselhaften

„Ufer der Verlorenen“ von Nobelpreisträger Joseph Brodsky, das Venedig-Buch schlechthin (Hanser, 1991), wurde zig Mal verschenkt. Jetzt gibt es einen völlig anderen Nachfolger fürs Weiterschenken – am besten an sich selber. Die regelmäßigen Erkundungen des Holländers, der demnächst 86 wird, bündeln sich zu einer Liebesbeziehung mit der rätselhaftesten aller Städte.
Cees Nooteboom.Venedig. Der Löwe, die Stadt und das Wasser. Suhrkamp, 240 Seiten, 24 Euro.

Anleitung zum Glücklichsein

Der Titel, der wie vom Wühltisch der Ratgeberbücher klingt, sollte nicht abschrecken: Der französische Intellektuelle Marc Augé (83), der als Begründer einer „Ethnologie des Nahen“ schon Bücher wie „Lob des Fahrrads“ (2017) lieferte, schreibt weise über Glücksmomente, die uns – vielleicht gerade weil sie flüchtig sind – tief berühren und prägen.
Marc Augé.Das Glück des Augenblicks: Liebeserklärungen an den Moment. C. H. Beck, 139 Seiten, 16 Euro.

Der Favorit: Hilde Spiel

Ein jugoslawischer Bildhauer. Ein scheues italienisches Mädchen. Die Stadt Triest und ihre Geschichte. Poetische Erzählung von 1980.
Hilde Spiel.Mirko und Franca. Herbig, 144 Seiten, 15,50 Euro.

Favorit von Michael Tschida: Hilde Spiel
Favorit von Michael Tschida: Hilde Spiel © Herbig

Susanne Rakowitz:

Wie ein Stachel im eigenen Fleisch

„Du schwörst, alles zu vergessen und niemandem je davon zu erzählen“, doch es wäre nicht Annie Ernaux, wenn sie ihre Erfahrungen als junge Erzieherin in einem Ferienlager nicht abarbeiten und verarbeiten würde. Und man liest es nicht als Einzelschicksal: Neugierde und Begehren treffen auf sexuelle Gewalt, die Macht der Hierarchie und die Grausamkeit der Gruppendynamik.
Annie Ernaux.Erinnerungen eines Mädchens. Suhrkamp, 163 Seiten, 11,40 Euro.

Neulich nachts am Hirschpfad

Das Glück liegt in den kleinen Dingen – vorausgesetzt, man sieht sie. Chris Yates begibt sich in die Natur, wenn die meisten Menschen in der Horizontale weilen: des Nachts. Dann schleicht er durch Wald und Wiese, horcht, spürt und sammelt: Eindrücke, die so anders sind, als wäre man in einem Paralleluniversum. Die beste Alternative zur sommerlichen Schlaflosigkeit.
Chris Yates.Nachtwandern. Eine Reise in die Natur. Insel, 151 Seiten, 17,50 Euro.

Der Favorit: Losing Earth

Nathaniel Rich skizziert die Geschichte des Klimawandels, er folgt Wissenschaftlern, Politikern, Lobbyisten – packend wie ein Krimi.
Nathaniel Rich.Losing Earth. Rowohlt, 240 Seiten, 22,70 Euro.

Favorit von Susanne Rakowitz: Losing Earth
Favorit von Susanne Rakowitz: Losing Earth © Insel Verlag