"Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren", heißt es in Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Das war die unmissverständliche Botschaft, als vor 70 Jahren die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von der Vollversammlung der UNO verabschiedet wurde. Sie stellt den Menschen in den Mittelpunkt mit seiner unveräußerlichen Würde und mit seinen Rechten.

Am Montag, 10. Dezember, am Tag der Menschenrechte, kreuzt von 14 bis 18 Uhr die Grazer MenschenrechtsBim als Sonderfahrt auf dem Schienennetz der Grazer Linien durch die Grazer Bezirke. Mit dabei ist Altbürgermeister Alfred Stingl. Auch die ehemalige Stadtschreiberin von Graz, die tschechische Autorin Radka Denemarková, ist ab 15 Uhr in der Bim und ab 19 Uhr im Afro-Asiatischen Institut. Unter dem Motto "Die Gitterstäbe der Gefängnisse sind heute unsichtbar" macht sie sich Gedanken über Zensur, Meinungs- und Redefreiheit, aber auch über das ewige Ringen um die Rechte der Frauen.

Frau Denemarková, wie steht es 70 Jahre nach der Verabschiedung der Deklaration um die Menschenrechte?

Radka Denemarková: Ich bin schockiert, was allerorten los ist. Ich bin auch schockiert über die Vorgänge in Tschechien. In den letzten drei Jahren hat sich vieles zum Schlechteren entwickelt. Anfangs dachte ich noch, das hängt damit zusammen, dass wir im Osten die Traumata des Kommunismus noch nicht los sind und nicht fähig sind, in der Demokratie zu leben. Aber dann wurde ich eines Besseren belehrt: Nicht nur in Tschechien wird um die Demokratie gerungen. Denn es kam die Brexit-Abstimmung, es kam die Flüchtlingskrise, Donald Trump wurde US-Präsident, allerorten Rechtspopulisten, der Antisemitismus ist wieder da, der Rassismus. Wenig Erfreuliches. Aber ich hoffe, dass diese Stimmung ihrem Ende zugeht, weil die Menschen letztlich doch erkennen, dass sie sich damit auf dem Weg in die Hölle befinden.


Carla del Ponte, zuletzt UNO-Sonderberichterstatterin von Syrien, sagte kürzlich: "Wir sind an einem Tiefpunkt. Menschenrechte gelten nichts mehr." Die frühere UNO-Chefanklägerin wirft der internationalen Gemeinschaft kollektives Versagen im Konflikt in Syrien vor. Gräueltaten, wie jene der Terrororganisation IS, habe sie zuvor noch nie gesehen. Nicht in Jugoslawien. Nicht in Ruanda.

Denemarková:
Die Menschenrechte werden heute mehr denn je überall mit Füßen getreten. Doch ich habe die Hoffnung, dass sich das wieder ändert. Dass die Menschenrechte im 20. Jahrhundert definiert wurden, war ein Wendepunkt in dem blutigen Jahrhundert. Allerorten heißt es mittlerweile wieder, auch in Osteuropa: Die Menschenrechte müssen neu definiert werden. Vielleicht ist das nicht nur negativ, vielleicht hat man auch erkannt, dass man auf neue Herausforderungen neu reagieren muss. Vielleicht braucht es auch mehr neue Werte. Denn Hand aufs Herz: In Westeuropa wurde die Demokratie zuletzt oft nur mit den Werten des Business definiert.


Orten Sie einen Orientierungsverlust? Einen Verlust an humanistischen Werten?

Denemarková:
Absolut, denn wir in der industrialisierten Welt haben keine Vision. In Tschechien wurde zuletzt unter Václav Havel von Werten gesprochen. Für Vaclav Havel standen die Menschenrechte an erster Stelle, heute ist das alles nicht mehr so wichtig, so scheint es. Tschechiens Staatspräsident Miloš Zeman und auch sein Vorgänger Václav Klaus haben Havel offen ausgelacht, weil er die Menschenrechte hoch gehalten hat. Diese Mischung aus Arroganz und Machtaggressivität ist entsetzlich. Ich frage mich: Wer wählt diese Politiker? Was möchten diese Menschen, die diese Politiker wählen? Was stellen sie sich vor? Wollen sie wieder, dass Tschechien isoliert ist? Wollen sie einen Kommunismus wie in China, mit Oligarchen und dem heiligen Konsum?

Was ist los in Tschechien?

Denemarková: Dort ist das Schlimmste passiert: Das ist unser Mega-Drama. Premier Andrej Babiš war Mitarbeiter der Staatssicherheit. Er hat Milliarden gesammelt in den 90er-Jahren, gleich nach der Wende. Doch er wollte nicht nur Geld, sondern auch Macht. Dazu kommt bei ihm noch das Berlusconi-Syndrom, wie ich es nenne: Er hat die größten Zeitungen in Tschechien gekauft, die Propaganda funktioniert. Er hat das wirklich schlau gemacht.

Wie ist es möglich, dass 50 Jahre nach dem Prager Frühling vom "Aufbruch" nichts mehr zu spüren ist.

Denemarková: Das frage ich mich jeden Tag. Der erste große Fehler war, dass die Vergangenheit nicht aufgearbeitet wurde. Es wurde nicht gesagt: Das sind die Opfer, das sind die Täter. Zweitens: Ich hatte gehofft, dass wir uns nach der Öffnung, nach dem Ende des Eisernen Vorhangs, das Beste aus dem Westen holen, dabei haben wir nur den Konsum, das Konsumverhalten kopiert. Und drittens: Diese Lethargie, diese Resignation kommt auch von der Generation, die große Hoffnung in die ersten Jahre nach 1989 gesetzt hat. Dazu kommt die Propaganda gegen Flüchtlinge, die ja gar nicht in Tschechien sind. Dazu kommt die  Zusammenarbeit Babiš' mit Viktor Orbán in Ungarn und Jarosław Kaczyński in Polen: Diese Typen halten zusammen. Das ist hoch gefährlich.