Herr Weiss, Ihr Buch heißt: "Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen". Worüber lachen die Menschen?

Philipp Weiss: Das Lachen ist ja evolutionsgeschichtlich eine Drohgebärde der Primaten. Der Titel hat zwei primäre Referenzen. Die eine ist Flammarions Holzstich, ein Bild aus dem 19. Jahrhundert, das auf Deutsch auch den Titel "Wanderer am Weltenrand" trägt und einen mittelalterlichen Wahrheitssucher zeigt, der bis an den Rand der Welt wandert und dort, wo Himmel und Erde sich berühren, durch eine Lücke zwischen beiden hindurchblickt. Es ist diese Grundbewegung der Überschreitung, die die positive Lesart dieses Textes ist. Der zweite, etwas dunklere Referenzpunkt ist "der letzte Mensch" aus Nietzsches "Zarathustra", ein dumpf-glückliches, apathisches Geschöpf, das dasitzt und blinzelt. Das Lachen der Menschen am Weltenrand ist, so vermute ich, eine hysterische Vorstufe zu diesem Blinzeln. Es ist vielleicht auch das Lachen derjenigen, die auf der sinkenden Titanic weitertanzen; das Lachen, das Erlösung sucht und aus der Verdrängung des Schreckens kommt.

Wie viel Größenwahn gehört dazu, ein Mammut-Projekt wie das Ihre zu betreiben und auch zum Abschluss zu bringen?

Weiss: Erst einmal gehört viel Naivität dazu. Wenn man sich so leichthin hinsetzt und in einer Phase des wahnhaften Übermutes so etwas konzipiert, ist man sich nicht bewusst, auf was man sich da einlässt. Wenn man dann zu arbeiten beginnt, versinkt man in der Materie. Und irgendwann hat man schon so viel investiert, dass man nicht mehr herauskommt. Man sitzt in der Falle. Gerade in den ersten Jahren der Arbeit stand ich unter großem Druck - insofern, als dass es ein fragiles Konstrukt war, das ich da versucht habe zu bauen. Hätte ich mich auch nur einen Moment abgewandt, wäre ich Gefahr gelaufen, dass alles in sich zusammenbricht. Es braucht also zunächst einen naiven Moment - und den Grundimpuls, der all meine Arbeit anleitet, den Grundimpuls der Überschreitung und den Wunsch, Komplexität und große Zusammenhänge fassbar zu machen. Für mich selbst und für andere.

Wann kam die Sicherheit dazu, dass sich ein großer Verlag wie Suhrkamp dafür interessiert und die Jahre, die Sie investiert haben, wahrscheinlich nicht vergeblich gewesen sein werden?

Weiss: Der Verlag kam ungefähr in der Hälfte des ganzen Prozesses ins Spiel. Hätte sich Suhrkamp nicht darauf eingelassen - das Projekt hätte sich vielleicht gar nicht verwirklichen lassen. Es ist ein Riesenglück, dass es so einen Verlag gibt, der nicht nur den Wagemut besitzt, sondern auch die Mittel und Möglichkeiten, das dann auch in die Welt zu tragen.

Die fünf Teile des Projekts sind nicht nacheinander, sondern parallel entstanden?

Weiss: Das war absolut notwendig. Um das Ganze zusammenwachsen zu lassen, habe ich immer wieder zwei bis drei Monate mit einem der Bände verbracht und bin dann zum nächsten geflüchtet, habe auf diese Weise die Fluchtbewegung produktiv gemacht. Die Stimmungslagen, die Perspektiven auf die Welt, die geistigen Horizonte dieser Bände sind ja grundverschieden. Es war ein sehr lebendiger Prozess, auf diese Weise zu arbeiten, und es hat mir erlaubt, auf komplexe Weise nachzudenken - vergleichbar mit fünf Personen, die um einen Tisch sitzen und versuchen, ein Objekt in ihrer Mitte aus jeweils ihrer Perspektive zu beschrieben. Das ist das Prinzip: kommunizierende, polyphone Perspektiven, die gemeinsam auf eine nicht-lineare, netzförmige Art versuchen, die Welt fassbar zu machen.

Mit welcher Art von Lektüre kommt man dieser polyphonen Sicht am nächsten?

Weiss: Grundsätzlich kann man sich dem Roman tatsächlich von jeder Seite nähern. Man kann parallel lesen, aber auch nur einen Band herausnehmen, der einen besonders anlacht. Man kann manche Bände mittendrin aufschlagen und sich verführen lassen. Das Ganze erlaubt einen sehr freien Umgang. Nichtsdestotrotz erschließt sich einem das Geflecht der Bezüge, die Komplexität des Ganzen am besten, wenn man sich ganz darauf einlässt und alle Bände liest. Die Reihenfolge ist dabei relativ egal. Aber es gibt natürlich auch eine Chronologie, der man folgen kann. Man könnte mit den "Enzyklopädien eines Ichs" , also dem 19. Jahrhundert beginnen, danach die drei Bände lesen, die im Jahr 2011 angesiedelt sind und sich unter anderem um die Fukushima-Katastrophe drehen, und zuletzt den Science-Fiction-Manga lesen.

Wann war Ihnen klar, dass Sie derart unterschiedliche Genres, so verschiedene Erzählformen benötigen?

Weiss: Ich hatte mit dem Band "Terrain vague" begonnen. Es handelt sich dabei um eine eher klassische Erzählung. Dabei lässt mich so ein konventionelles, lineares Erzählen immer unbefriedigt zurück. Es vermag nicht zu fassen, was Wirklichkeits- und Lebenserfahrungen im 21. Jahrhundert bedeuten. Als ich nach einer längeren Pause, die ich mir für das Theater genommen hatte, wieder zu dem Projekt zurückgekehrte, wurde mir klar, dass es für den Versuch, eine fragmentierte, komplexe Wirklichkeit fassen zu wollen, einen viel umfassenderen Ansatz braucht. Jeder dieser Bände hat darum nicht nur eine andere Sprache und einen anderen Erzähler, sondern eine genuine Form, die eine jeweils andere Perspektive auf die Welt offenbart - vom obsessiven und inventarisierenden Weltentwurf einer Enzyklopädie über den philosophischen Essay oder die Wahrnehmung eines Kindes bis zur fantastischen Formenwelt des japanischen Mangas. Wenn diese Wirklichkeiten miteinander kommunizieren, entsteht, so hoffe ich, eine neue komplexe Erfahrung.

Ihr Roman behandelt Philosophie und Physik, Geschichte und Naturgeschichte. Brauchen Sie zur Vermittlung Ihrer Gedanken überhaupt die Literatur?

Weiss: Die Sprache ist das Medium des Denkens schlechthin, und für mich ein Mittel der Suche nach Erkenntnis und Schönheit. Dieser Duktus des über die eigenen Grenzen formal und ästhetisch Hinausgehens hat die Literatur seit Cervantes schon immer ausgezeichnet. Diesen Rahmen habe ich nie auch nur einen Millimeter verlassen. Aber in gewisser Hinsicht ist Literatur auch ein Medium einer im Untergang befindlichen bürgerlichen humanistischen Welt. Man kann nicht ausschließen, dass sich eines Tages ein anderes Medium findet, das mir das Nachdenken über die Welt noch besser ermöglicht. Vielleicht eröffnet die virtuelle Realität oder eine Art von Computer-Hirn-Schnittstelle in der Zukunft die Möglichkeit, Erfahrungen zu vermitteln, ohne sich der Sprache bedienen zu müssen. Was aber die Literatur bis heute jedenfalls am besten kann, ist die Introspektion, die Möglichkeit, die Welt von innen heraus beschreibbar zu machen. Die klassische Aufgabe des Romans, die "transzendentale Obdachlosigkeit" zu fassen, wie Georg Lukács das nennt, ist nach wie vor gültig. Und sie treibt Menschen nach wie vor dazu, Bücher zu lesen - auch wenn immer weniger Zeit dafür vorhanden ist. (lacht)

Woher kommen die starken Japan-Bezüge in Ihrem Roman?

Weiss: Am Anfang dieser ganzen Arbeit stand meine Reise nach Japan 2012, ein Jahr nach der Fukushima-Katastrophe. Da bin ich einer Intuition gefolgt. Japan war vorher für mich eine Terra incognita. Es wurde aber eine für mich ganz fruchtbare Begegnung, bei der viele meiner Fragen - etwa die nach dem Verhältnis des Menschen zu Natur und Technik - begonnen haben, konkretere Gestalt anzunehmen. Was ich in Japan gefunden habe, war eine Kultur, die die Ideologie und Lebensweise des Westens inkorporiert und überboten hat, darüber hinaus aber eine ästhetische Welt, eine Gesellschaft, in der Form sowohl im sozialen Umgang als auch in der Gestaltung des Alltags eine sehr große Rolle spielt. Was mich an Schönheit aber interessiert, ist der Bruch, der sie konstituiert. Die Schönheit ist ja ein Exzess, keine Perfektion, die für sich genommen langweilig ist. Und Japan bietet nun sehr viel Anlass, sich über alle möglichen Brüche Gedanken zu machen - etwa über das zunehmende Zusammenbrechen des Individuums unter dem enormen Druck der Leistungsgesellschaft.

Sie haben den Roman auch eine Art Selbstbestimmung genannt, einen Prozess der Rechenschaft über sich selbst. Sind Sie sich dabei tatsächlich näher gekommen?

Weiss: Der Roman versucht ja eine Verortung des Menschen und des Ichs in großen, kosmologischen Zusammenhängen. Ich würde sagen, dass auf einer solchen intellektuellen Ebene der Selbstverortungsprozess erfolgreich war. Auf einer persönlichen Ebene würde ich eher meinen, dass mein Ich, also dieses Etwas, das sich Philipp Weiss nennt und jetzt mit Ihnen am Tisch sitzt, eher verloren gegangen ist. Ich habe meine unmittelbare Erfahrung der Welt und der Interaktion mit anderen über einen langen Zeitraum so reduziert, dass ich tatsächlich ein Gespenst war. In dieser Zeit haben starke Figuren mein Inneres ausgefüllt und übernommen. In gewisser Weise war das auch ein wenig bedrohlich. Aber Schreiben ist immer das Ausleben innerer, nicht gelebter Möglichkeiten. Jeder Schreibakt erweitert die Grenzen dessen, was mein Ich vorher war. Insofern ist der Philipp Weiss von vorher in diesem Akt vielleicht verschwunden, aber als eine facettenreichere, multiplere Persönlichkeit zurückgekehrt. Da bin ich aber noch nicht ganz sicher. (lacht)

Weiß dieser multiplere Philipp Weiss schon, wie sein Autorenleben weitergehen wird? Wird auch der Theaterautor Weiss von diesem riesigen Prosa-Projekt profitieren?

Weiss: Das Theater ist mir natürlich weiter ein Anliegen. Ich schreibe gerade an einem Auftragsstück für das Hamakom Theater in Wien. Es heißt "Der letzte Mensch" und wird in gewisser Hinsicht an den Roman anschließen und sich mit den nächsten hundert und mehr Jahren der Weltgeschichte in verschiedenen Variationen befassen. Es soll im Frühjahr 2019 zur Aufführung kommen. Was meine Prosa betrifft: Es gab ja zwei katastrophische Ausgänge für "Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen". Der erste: Das Projekt scheitert. Der zweite: Es glückt. Es ist geglückt, also ist mein Größenwahn angestachelt. Ich habe ein noch größeres Projekt konzipiert, und damit werde ich mich jetzt wohl die nächsten zehn Jahre beschäftigen. Ich nenne es "Weltroman". Obwohl wir als Menschen evolutionär bedingt Wesen des Unmittelbaren sind, existieren wir im 21. Jahrhundert und höchstwahrscheinlich auch in der Zukunft als Wesen in einem globalen Kontext. Ich würde meinen, dass es keine erzählerischen Projekte gibt, die dem Menschen in einer globalisierten Welt mit ihren Strömen an Informationen, Waren, Rohstoffen, Körpern, Kapital und Energie ausreichend Raum geben. Ich möchte versuchen, das narrativ fassbar zu machen.