Die Berührung mit dem anderen, mit der fremd gewordenen Textur der Welt, die durch die Kunst hindurch möglich wird, im Glücksfall infektiös für den Betrachter und deshalb im Feuilleton exemplarisch erlebbar in der Arbeit des Kritikers, ist im klassischen Informationsverarbeitungsprozess der Zeitung und des Hörfunks nicht mehr gefragt, sondern beargwöhnt; vom Fernsehen ganz zu schweigen, wo die Separierung der Kunst von der kulturell interessierten Öffentlichkeit ungleich weiter fortgeschritten ist. In diesem Zusammenhang eine Vignette, konkret das Thema Literaturkritik betreffend: Die einzige an ein größeres Publikum gerichtete deutsche Fernsehsendung, die ausschließlich Diskussionen über neue Bücher zeigt, verzichtet programmatisch vollständig auf Literaturkritiker.

Noch gibt es in den Medienhäusern Vertreter einer starken Bildungstradition, die sich des Rationalität überwölbenden oder modern: unterlaufenden Charakters der Kunst sehr wohl bewusst sind und zudem der Notwendigkeit, sich anderen Formaten und Darstellungsformen zu öffnen. Und damit meine ich unter anderem auch eine Einrichtung wie diese hier in Klagenfurt, die die Kunst mit der Kritik und mit der klassischen sowie der digitalen Medienwelt zusammenführen: das erstaunliche Medienphänomen einer live zugespitzten, performativ zelebrierten, also zwischen Schrift und Mündlichkeit oszillierenden progressiven Universalpoesie, um einen Begriff des romantischen Begriffs-equilibristen Friedrich Schlegel zu verwenden, dem Vordenker einer rational gesteuerten, gleichwohl kunstreligiös animierten ästhetischen Erfahrung, für die er ironischerweise den Begriff der Ironie reklamierte. Und der aus dem Rezensieren, in der Praxis der Aufklärung noch eine anonyme Begutachtung von Büchern, das ‚Charakterisieren‘ machte, ein Herausarbeiten der Individualität, der Einzigartigkeit des literarischen Gegenstandes durch die Individualität des Kritikers.

Zusammenspiel vieler Individualitäten

Auf die Bachmann-Tage bezogen, müsste man vom Zusammenspiel recht vieler Individualitäten von Texten und Kritiken sprechen. Zu den phantastischen Ergebnissen einer nunmehr fünfundvierzigjährigen Evolution des streng reglementierten Lese- und Diskussionsprozesses „Bachmann-Preis“, gehört unter anderen die Möglichkeit, bei der Besprechung des literarischen Textes von einem expliziten Urteil abzusehen. Die diskursive Zusammenführung von sieben Stimmen mit je eigenem Ton, unterschiedlichen Argumente und unterschwelligen Bekenntnissen, versieht den jeweiligen Text im Idealfall mit einer solchen Plastizität, dass ein abschließendes Urteil à la „Gefällt mir“ oder „misslungen“ gänzlich unterbleiben kann. Annäherungen, Begegnungen, Anverwandlungen, mit denen der Autor auch im negativen Fall unverletzt weiterarbeiten kann. Ich übergehe hier die in den Anfängen häufig diskutierten kritischen Fragen nach dem Wettbewerbs- und Ranking-Charakter des Bewerbs, seiner arenahaften Inszenierung usw. mit dem Hinweis, dass neben den Modifikationen die schiere Dauer, die Gewöhnung, der eingespielte Umgang mit der Situation deren Härten doch weitgehend abgemildert haben.

Apodiktische Urteile

Natürlich ist der Bachmann-Preis auch eine Auskopplung aus der Zeitungs-, genauer der Feuilletonwelt. Doch mit einer selbstständigen Weiterentwicklung seit den Zeiten, als die lauten Großkritiker der gehobenen Presse hier im Studio noch mit heftigen, stark am Thema orientierten apodiktischen Urteilen den Ton angaben, hat sich die Eigenkraft der literarischen Darstellung im Klagenfurter Lese- und Diskussionsformat immer mehr durchgesetzt. Das lässt sich vom Kulturjournalismus im Allgemeinen eher nicht sagen. Zwar hat der höchstrichterliche Kritikergestus an Attraktivität verloren, doch die politische Zweckorientierung hat sich nach einer Nachkriegsphase der nationalkulturellen Streitbarkeiten zunächst stärker in eine global orientierte Politisierung verstrickt, um heute in der Mikropolitisierung, der Kurzschaltung von privater und gruppenspezifischer Befindlichkeit mit universellen moralischen Ansprüchen, die Utopie eines Zusammenfalls von ästhetischen Ausdrucks- und sozialen Anerkennungsverhältnissen zu entdecken.  (...)

Es gibt ja zurzeit eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den banalisierenden Tendenzen in Darstellung und Berichterstattung von Kultur im Radio. Sie nimmt ihren Anstoß wesentlich an der Schrumpfung der Sendeplätze. Viel wichtiger scheint mir eine Diskussion der Art und Weise des Umgangs mit den schönen Künsten. Die Kollegen der klassischen Musik machen es deutlicher noch als wir Literaturkritiker, wenn sie in ihrer Senderkritik, aktuell an WDR und RBB, mit deren anmaßendem und täuschendem Konzept des „erweiterten Kunstbegriffs“ ins Gericht gehen, den man polemisch auch den „um André Rieu erweiterten Kunstbegriff“ nennen könnte.

Die Kritik und der Faktor Zeit

Positiv gewendet: Die Bewahrung eines Raums der anspruchsvollen Darstellung, von der Moderation über komplexen Sprachgebrauch und eine durchaus auch textmimetisch operierende Dramaturgie bis zum ausführlichen Zitat, ist entscheidend. Den Kritikern muss die nötige Zeit für die Begegnung mit den im Kunstwerk aufgehobenen Erfahrungen, mit der Eigenzeit, sei es der Musik, in unserem Fall der Fiktion gewährt werden, sie müssen das Geheimnis, heute technisch verkürzt: das „Betriebssystem“ eines Textes entschlüsseln können und eben auch dürfen, um dann in der Folge gerne auch ihre eigene Faszination zu Protokoll zu geben, mit Emphase als subjektivem Zusatz, aber eben nicht als Pseudoeigentlichkeit, die das Textgeschehen gefühlig verzerrt. Die Formate vor allem müssen sich wieder ändern, die Art und Weise, wie der Zugang zur Kunst organisiert wird: weniger launige Gespräche, keine scripted interviews zwischen Moderator und Kritiker, weniger Autorengespräche, Zeit und Raum für das lesegenaue Sich-Einlassen auf das Textgeschehen, für die Philologie gewordene Text-Gnostik, für die ständige Verwebung des kognitiven Zugriffs auf Text und Welt mit ihrer auch mimetisch vorangetriebenen sinnlichen Darstellung und Erfassung. (...)