In seinem 1995 erschienen Roman „Der Vorleser“, mit dem er literarischen Weltruhm erlangte, schilderte Bernhard Schlink in der Person einer ehemaligen KZ-Aufseherin, wohin Rassenlehre, völkische Wahn-ideen und kollektiver Judenhass führen. Das Völkische und die verstörende Tatsache, dass es in radikalen Zellen noch immer in abstrus-brutalen Ausformungen existiert, ist auch Hauptthema in Schlinks neuem Roman „Die Enkelin“, dessen Fundament eine komplizierte Familiengeschichte zwischen Ost und West ist.

Es beginnt damit, dass ein Berliner Buchhändler die schriftliche Hinterlassenschaft seiner verstorbenen Gattin entdeckt und darin auf deren Lebenslüge stößt. Er, Kaspar, brachte sie, Birgit, einst auf abenteuerlichem Weg aus der DDR in den Westen. In den Unterlagen muss er nun lesen, dass seine Frau ein Kind, eine Tochter, im Osten zurückgelassen hat. Diese, natürlich längst erwachsen, lebt mit ihrem Mann in einem kleinen Dorf in Mecklenburg, wo sie als „völkische Siedler“ gegen alles Ausländische und für ein Wiedererstarken Deutschlands kämpfen. Das Paar hat eine Tochter: Sigrun, 14 Jahre alt. Sie ist die titelgebende „Enkelin“ und hat statt Popstars ein Foto von Rudolf Heß in ihrem Jugendzimmer hängen.

Was Bernhard Schlink aus diesem Stoff macht, hinterlässt einen zwiespältigen Leseeindruck. Die Kernfrage: Wie umgehen mit den rechten Recken? Sie links liegenlassen in ihrer irren Gedankenwelt? Oder versuchen, sie durch Argumente aus ihrem wirren Retro-Reich zu locken? Kaspar, der Stiefgroßvater, will das bockige, indoktrinierte Mädchen aus dieser kranken Retro-Welt herausholen. Durch ein vorgetäuschtes Testament seiner Frau erkauft er sich das Recht, dass ihn die Enkelin regelmäßig in Berlin besuchen darf. Denn: „Er hatte sie in sein Herz geschlossen – nur unter dem Vorbehalt, dass sie ihrer Welt abschwören und in seine finden würde.“

Diese Großvater-Enkelin-Geschichte ist rührend, wirkt aber zeitweise überkonstruiert und märchenhaft. Kaspar kämpft um Sigrun, geht mit ihr in Konzerte, das begabte Mädchen nimmt Klavierstunden und muss zugeben, dass auch jüdische Komponisten gute Musik geschrieben haben. Sigrun ist zerrissen zwischen der Liebe zum Großvater und der Loyalität zu den Eltern. Am Ende, nach einem tödlichen Anschlag der rechten Anarcho-Szene, setzt sich Sigrun nach Australien ab. Und wenn sie nicht gestorben ist...

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Buchtipp. Bernhard Schlink. Die Enkelin. Diogenes,
368 Seiten, 25,90 Euro.