In den USA regiert der Goldrausch, in der tiefen schwedischen Provinz brechen zwei Brüder, Hakan und Linus auf, um in der Neuen Welt vielleicht ein anderes, besseres Leben beginnen zu können. Nach New York soll die Reise führen, doch schon vor der Abfahrt verlieren sich die beiden jungen Abenteurer im riesigen Hafen-Getümmel aus den Augen. Hakan landet schließlich in Kalifornien. Er kann kein Wort englisch, ist überzeugt, dass sein Bruder tatsächlich in New York ankam und macht sich auf den Weg, überzeugt, Linus finden zu können. Hernan Diaz nimmt in seinem Roman "In der Ferne" die Leserschaft mit auf einen schier endlosen, mehrere Jahrzehnte währenden Weg in die völlige Einsamkeit. Denn Hakan, dessen Namen sich im Englischen zum Hawk wandelt, glaubt nicht nur daran, ohne jegliche geografischen Kenntnisse den Weg nach New York zu schaffen, meist zu Fuß, er fühlt sich auch schuldig. Bei einem Überfall auf eine Gruppe von Siedlern wird der Hüne aus Schweden zum Berserker, der mehrere Plünderer tötet. Aber ihm werden weitere Morde werden unterstellt, er wird streckbrieflich gesucht und gejagt. Und er bringt es als Hawk zur Western-Legende. 

Es ist eine aussichtslose, durchaus berührende und spannende Geschichte über völlige Isolation und Abgeschiedenheit, über den Kampf zwischen Mensch und Natur, aber auch über die Entdeckung von Schönheiten und Gemeinsamkeiten, die noch mehr Wirkung zeitigen könnte, würde der Autor nicht ab und zu allzu märchenonkelhaft auf die Tränendrüse drücken. Aber außergewöhnlicher und ausgezeichneter Lesestoff ist es allemal. Und was ist hinten auf dem Cover zu finden? Ein Lob der "Times", schließlich wurde die Western-Odysee ja für den Pulitzer-Preis nominiert. Das Zitat eines ambitionierten Flachdenkers lautet: "Wie Huckleberry Finn, wenn Cormac McCarthy ihn erfunden hätte." Herz, was willst du mehr? Eigentlich weniger Vergleiche dieser Art, ganz unter uns.

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Buchtipp: Hernan Diaz. "In der Ferne". Hanser Berlin.
304 Seiten, 24,70 Euro.


Ein enorm wichtiges Buch, über das man nicht viele Worte verlieren muss, zumal es ohnehin sprach- und fassungslos macht. Takis Würger, der zuletzt mit "Stella", der Geschichte einer erpressten jüdischen Agentin für heftige Debatten sorgte, besuchte und interviewte in Israel mehrmals Noah Klieger, bekannt geworden als "Boxer von Auschwitz". Er hatte zuvor niemals die Fäuste erhoben, meldete sich trotzdem für die Kämpfe, in der Hoffnung, wenigstens etwas mehr Nahrung zu bekommen und vielleicht einige Wochen länger am Leben bleiben zu können. Noah, so heißt auch das Buch, überlebte zwei weitere KZ-Internierungen und drei Todesmärsche, er befand sich 1947 als Besatzungsmitglied auf der "Exodus", auf dem Weg nach Palästina, unterwegs gestoppt von britischen Kriegsschiffen.

Sein unglaublicher Überlebenskampf ist nun festgehalten in einem Werk, das sich jeder Kategorisierung entzieht. Es ist auch nebensächlich angesichts all der sadistischen Grausamkeiten. Am ehesten ist es wohl ein schonungsloser Bericht, erzählte Geschichte, an die Nachwelt gerichtet, in der Hoffnung, dass all der Wahnsinn nie in Vergessenheit gerät. "Ich weiß, dass es schwer zu ertragen ist, aber es war so", sagt Noah Klieger, der vor drei Jahren in Tel Aviv starb. Möge all das, was er erlebte und  überlebte, tatsächlich für immer in Erinnerung bleiben.

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Buchtipp: Takis Würger. Noah. Penguin Verlag. 188 Seiten, 20,60 Euro. 


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Senkrechtstart. Es ist kühn, in diesen schwierigen Zeiten einen Verlag zu gründen, noch kühner und konsequenter ist das Motto: "Was wir lesen wollen", lautet es. Und damit meint der Ecco-Verlag ausschließlich Werke von Autorinnen, teils sehr bekannt, teils von anderen Verlagen ignoriert oder abgelehnt. Für die Schriftstellerin, die zur Premiere vor den Vorhang tritt, gilt das keineswegs, sie ist eine weltbekannte Vielschreiberin: Joyce Carol Oates. Vor 20 Jahren veröffentlichte sie mit "Blond" einen Roman über Norma Jeane Baker, weitaus besser bekannt unter ihrem Künstlernamen - Marilyn Monroe. Mehr als 50 Biografien über die Hollywood-Ikone gibt es, der US-Aotorin lag es fern, all den Stimmen im Chor eine weitere hinzuzufügen. Ihr ging es darum, mit den Möglichkeiten dichterischer Freiheit, das Innenleben einer rasant angefertigten Kunstfigur zu durchleuchten, mit einer vollen Breitseite Richtung Hollywood. Denn die Traumfabrik hatte und hat für Frauen stets auch Albträume parat. 

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In der Neuübersetzung, die rund 100 Seiten mehr umfasst als die ohnehin schon wortmächtige Erst-Version, kommt noch deutlicher zum Ausdruck, wie viele Sehnsüchte und Hoffnungen Norma alias 
MM schon in ihrer Kindheit hegte, darunter jene nach einem leibhaftigen Vater, aber Oates zeigt auch, wie zerbrechlich diese nach außen hin scheinbar so souveräne und selbstbewußte Künstlerin gewesen ist. "Miss Golden Dreams" lautete einer ihrer Beinamen, der fast zynisch klingt angesichts der vielen geplatzten Lebensträume. Platzen lässt die Autorin aber auch lautstark, radikal und rigoros diverse, noch immer populäre Männerphantasien. "Blond" ist, wie erwähnt, keine Biografie, aber vielleicht kommt dieses Werk gerade deshalb der Wahrheit am nächsten.

Buchtipp: Joyce Carol Oates. Blond. Ecco Verlag. Neu übersetzt von Uda Strätling, Karen Lauer und Sabine Hedinger. Ecco. 1024 Seiten, 26,80 Euro.


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