Bernhard Günther ist um pointierte Formulierungen selten verlegen. Das seit 2016 von ihm geleitete Festival Wien Modern war im vergangenen Herbst schockgefrostet worden. Unmittelbar nach dem Eröffnungswochenende mit ausverkauften Konzerten im Stephansdom und im Konzerthaus kam der zweite Lockdown.

"Alles war eingefädelt, alles war am Laufen. Daher haben wir reflexartig versucht, so viel Programm zu retten wie möglich. Was herauskam, war eine ganze Bandbreite an Kanälen, vom Tanzprojekt mit Embedded Video Artist bis zur großen Übertragung aus dem Stephansdom mit sieben Livekameras. Ich denke, wir haben da eine steile Lernkurve genommen", erzählt Günther im Gespräch mit der APA. Rund 60 Ur- und Erstaufführungen konnten realisiert werden, doch nur 14 Prozent des Programms fanden mit Publikum vor Ort statt. Hat es sich unter diesen Umständen überhaupt noch nach einem Festival angefühlt? "Die Frage habe ich mir ständig gestellt. Ich weiß es noch immer nicht. Das Wichtigste bei einem Festival ist der Austausch mit dem Publikum. Der ist essenziell. Daher ist das sicher kein Schnittmusterbogen für zukünftige Festivals, sondern war das Beste, was wir aus einem Lockdown noch rausholen konnten."

Fast die Hälfte des Programms konnte über Rundfunk und/oder kostenlosen Stream zugänglich gemacht werden. Und auch unter Corona war nicht alles schlecht: "In der Regel haben wir dadurch ein Vielfaches an Zuhörern erreicht, die wir sowohl unter Corona- als auch unter Normalbedingungen erreichen hätten können. Das Konzert mit Sofia Gubaidulina etwa hatte nach einer Woche auf Vimeo 3.500 Abrufe, die zehnmal so hohen Facebook-Zahlen nicht gerechnet. So viele Besucher passen nicht in den Musikverein. Das ist schon sehr erfreulich. Auch dass es plötzlich internationale Rezensionen von Medien gab, die nicht nach Wien gekommen wären, sondern sich die Streams angesehen haben, hat uns überrascht."

Das abgelaufene Jahr 2020 wäre auch ohne Pandemie für das von dem 50-jährigen gebürtigen Schweizer geleitete Festival ein besonderes gewesen: "Wir sind endlich aus unserem Dachkammerl im Konzerthaus in ein eigenes Büro ausgezogen. Wir haben eine neue Website aufgesetzt, bei der wir ohnedies vorhatten, Audio und Video stärker einzubinden. Corona hat uns dazu gezwungen, das gleich und in großem Stil zu machen. Wie wir das zu einem nachhaltigen Angebot ausbauen können, müssen wir sorgfältig prüfen. Das ist vor allem eine Frage von Zeit und Geld. Aber es muss ja nicht gleich die Digital Concert Hall der Berliner Philharmoniker werden..."

Dass Digitalität im Kulturleben künftig eine größere Rolle spielen wird, ist etwas, was die Branche aus dieser Coronakrise lernt. Aber Bernhard Günther fürchtet eher das Gegenteil - den Verlust der Selbstverständlichkeit eines reichen Kulturangebots. "Kultur ist eine Kulturtechnik, die eine Gesellschaft nicht verlernen darf. Wir müssen alles dafür tun, die Flamme am Leben zu erhalten. Eine Gesellschaft, die vergisst, was Kultur ihr bringen kann, haben wir in Österreich lange nicht gehabt. Ich möchte das auch nicht erleben."

Doch die Prioritäten der Regierung sind derzeit andere: "Die Regierung hat einen Tunnelblick, der auf das Infektionsgeschehen fixiert ist. Ich halte es für absolut essenziell, dass sich der Horizont wieder weitet. Was nützt es, wenn wir zwar das Virus überstehen, danach aber eine in Depression versunkene Gesellschaft haben, die am Sofa Home-Entertainment konsumiert?"

Die aktuelle Debatte zum "Freitesten" ist für den Musikmanager symptomatisch: "Die Kultur hat schon ab Sommer 2020 mit regelmäßigen, flächendeckenden Schnelltests gezeigt, wie ein professioneller Betrieb unter Pandemiebedingungen denkbar ist. Im Unterschied zu anderen Wirtschaftsbereichen noch dazu auf eigene Kosten und ohne nennenswerte Infektionsfälle. Ein halbes Jahr später versucht die Regierung endlich vollkommen richtig, sich von der Holzhammermethode des Lockdowns zu lösen - und verspielt den dringenden Neustart mit einer Kommunikationsstrategie, die herüberkommt wie eine schlecht koordinierte Mischung aus Strafen, Weiterschieben von Verantwortung, Unklarheit und Klientelpolitik. Was dem Kulturbereich im Sommer und im Herbst geholfen hat, war der unerschütterliche Glaube an gute Augenblicke in der Gemeinschaft - das würde inzwischen nicht nur der Regierung wieder einmal guttun."

Dabei gäbe es auch ohne Corona in der Kulturpolitik viel zu tun, meint Günther: "In der Sparpolitik seit den 1990er-Jahren wurde die Kultur weitgehend dem Markt überlassen. Vor allem das Konzertwesen hat die Öffentliche Hand weitgehend aufgegeben. Für zeitgenössische Musik ist das fatal. Und ganz besonders schlimm hat es die Freie Szene erwischt." Die fetten Jahre, so es sie in der Kultur je gegeben hat, seien längst vorbei: "Die Kulturbudgets wurden jahrzehntelang gekürzt. Das hat dazu geführt, dass selbst große Institutionen kaum mehr Raum für Risiko haben. Die im Herbst verkündete Budgeterhöhung ist Peanuts im Rahmen der Coronaausgaben und wird dennoch als Erfolg verkauft. Es braucht - auch zahlenmäßig - ein sehr viel deutlicheres Bekenntnis zu Kunst und Kultur."

Was sind zu Beginn des Jahres 2021, das gänzlich ungewisse Perspektiven bietet, Bernhard Günthers größte Sorge und größte Hoffnung? "Meine Sorge ist, dass diese Krise bleibende Folgeschäden hinterlässt und dass sich das Prekariat verfestigt. Allein schon bei Fair Pay, Gender Equality, Innovation und Publikumsentwicklung gibt es riesigen Handlungsbedarf. Meine Hoffnung ist, dass die Dynamik, die in die Budgetpolitik gekommen ist, auch dazu führt, dass die österreichische Kulturpolitik endlich aus der Defensive kommt."

(Das Gespräch führte Wolfgang Huber-Lang/APA)