Herr Professor, ist es absurd, nach einem solchen problembeladenen Jahr über das Thema Zufriedenheit zu sprechen – oder ist es gerade jetzt sinnvoll?
REINHARD HALLER: Es ist jetzt ganz besonders sinnvoll, weil wir im Laufe dieses Jahres doch eine ganz andere Einstellung zum Leben bekommen haben. Dinge, die man vorher gar nicht beachtet hat, haben plötzlich an Wert gewonnen. Uns ist bewusst geworden, dass unser Dasein und unsere Lebensqualität nicht nur auf materiellen Dingen gründen. Wenn man von einem Kollateralnutzen dieser Pandemie sprechen kann, dann in dem Sinne, dass uns die Wichtigkeit der psychosozialen Befindlichkeit wieder mehr in den Sinn gekommen ist.

Sie orten also eine Werteverschiebung ins Positive?
HALLER: Ich habe ja einiges über Narzissmus publiziert, und spätestens seit der digitalen Revolution sind wir massiv egozentrisch geworden. Es wurde sozial kälter, es heißt nur noch: Ich, ich, ich. Mit frommen Wünschen und Sprüchen ist es natürlich nicht gelungen, dass wir Menschen solidarischer geworden sind. Aber ich glaube, dass Corona ein antinarzisstisches Virus ist, weil es uns vermittelt hat, dass wir endliche, verletzliche, krankheitsanfällige Wesen sind. Was wir in der Narzissmusdiskussion erhofft haben, ist jetzt durch diese Krise zumindest ein Stück weit erfolgt.

Das klingt relativ zuversichtlich, aber ist diese Rückbesinnung auf das Wir im Laufe dieses Jahres nicht massiv gebröckelt?
HALLER: Ja, da haben Sie schon recht. Und diesen Satz, wonach jede Krise eine Chance ist, kann ich auch schon nicht mehr hören. Dennoch ist eine Krise immer auch eine Weggabelung, ein Wendepunkt. Natürlich hat Corona nicht die Lösung aller Schieflagen gebracht, aber ich denke schon, dass es einen gewissen Ruck gegeben hat und die Menschen jetzt mehr über ihren narzisstischen Höhentrip nachdenken. Ein narzisstischer Mensch kann übrigens auch nie zufrieden sein, weil er nie genug bekommen kann, da er unersättlich ist.

Die Zufriedenheit könnte man auch als kleine Schwester des Glücks bezeichnen. Was ist der größte Unterschied zwischen Glück und Zufriedenheit?
HALLER: Glück ist eine schillernde, verlockende Emotion, rauschhaft und auch etwas künstlich. Und vor allem ist es flüchtig und, wenn überhaupt, nur für kurze Momente greifbar. Hingegen ist Zufriedenheit etwas Stabileres und Verlässlicheres und man kann sie sich – im Gegensatz zum Glück – durchaus erarbeiten. Das Glück oder die Erzeugung davon ist eine regelrechte Industrie geworden und gleicht ja fast schon einem Heilsversprechen mit all den Ratgebern, Seminaren, Glücksformeln und -pillen. Ich glaube, es wäre besser, wenn man all die Energie, die man in die Glücksforschung hineinsteckt, in eine Zufriedenheitsberatung investiert.

Wenn wir beim Bild bleiben: Die kleine, oft unscheinbare Schwester namens Zufriedenheit hat viel mehr zu tun als die große, schillernde Glücksschwester.
HALLER: So ist es. Das Glück kann einem mitunter in den Schoß fallen, für die Zufriedenheit hingegen muss man etwas tun, sie leben und auch lernen. Für mich ist der Nährboden für Zufriedenheit soziale Kompetenz, Wertschätzung, auch Spiritualität und Selbstvertrauen. Nur ein Mensch, der auch zufrieden mit sich selbst ist, kann ein Leben in Zufriedenheit führen. Diese Selbstzufriedenheit darf man aber nicht mit Selbstgefälligkeit verwechseln. Der entscheidende Punkt für Zufriedenheit ist meines Erachtens aber ein hohes Maß an Gelassenheit, was man wiederum nicht mit Gleichgültigkeit verwechseln darf. Gelassenheit bedeutet, dass man nicht gleich von jeder Emotion weggespült wird, sondern ein Stück weit über ihnen steht. Zur Gelassenheit gehört auch das Bemühen, negative und pathologische Emotionen und Verhaltensweisen loszulassen: Neid, Hass, Geiz, Gier.

Von Gelassenheit sind wir aber weit entfernt. Erleben wir derzeit nicht das Gegenteil davon, regelrechte Empörungsexzesse?
HALLER: Natürlich! Aber umso wichtiger ist es, sie anzustreben. Zur Gelassenheit gehört für mich übrigens auch eine gewisse Sachlichkeit, die sehr zu wünschen übrig lässt. Auf der anderen Seite nimmt die Kritiksucht immer mehr zu. Ein erster wichtiger Schritt wäre, so banal das klingen mag, nicht immer nur die negativen Dinge zu sehen und zwanghaft zu suchen.

Zum Schluss noch einmal zurück zur Zufriedenheit: Ich habe einen Stein aus England daheim, auf diesem steht der Spruch: „Live within your harvest“ – also: Lebe innerhalb deiner Ernte. Können Sie damit etwas anfangen?
HALLER: Ein sehr schöner Satz! Er bringt auf den Punkt, was ich wortreich sagen wollte. Zufrieden mit dem sein, was man hat – denn meist ist das sehr viel. Aber man sollte auch nicht vergessen und nicht daran verzweifeln: Zufriedenheit ist eine Lebensaufgabe – und ganz wird man sie wohl nie erreichen.