Sie ist der Prototyp eines starken Mädchens: Sie hebt Pferde auf, wirbelt Möbel durch die Luft und wirft Einbrecher kurzerhand aus ihrem Haus, sollte das vonnöten sein. Sie geht nicht in die Schule, sondern macht, widdewiddewitt, was sie will: Lebt mit einem Koffer voller Gold und mit Pferd und Äffchen alleine in einer Villa. Sie bäckt Kekse auf dem Boden, isst unter dem Tisch oder treibt mit ihren Freunden Annika und Tommy allerlei Schabernack: Pippilotta Viktualia Rollgardina Pfefferminz Efraimstochter Langstrumpf.


Ende 1945 landete das kleine, freche Mädchen mit den roten Zöpfen, den Sommersprossen und den viel zu großen Schuhen auf den Verkaufstischen der Buchhandlungen. Die unbeugsame, selbstbestimmte und freiheitsliebende Seemannstochter aus der Villa Kunterbunt prägte Generationen von Kindern, speziell Mädchen und ihre Mütter.
Und 75 Jahre später sind die Anziehungskraft von Pippi Langstrumpf und ihr Einfluss auf die Entwicklung von jungen Menschen dank Büchern, Filmen und Serien ungebrochen. Sagen wir so: Der Fuß der Heldin hinterließ in den Kinderzimmern der Welt seinen übergroßen Abdruck.
„Bemerkenswerterweise ist Pippi Langstrumpf zeitlos geblieben, obwohl der Ort des Geschehenes, eine schwedische Kleinstadt, und die dargestellten Verhaltensweisen und pädagogischen Vorstellungen auf die Zeit um 1940 verweisen“, erklärt die Literaturwissenschaftlerin Bettina Kümmerling-Meibauer von der Universität Tübingen. Und: „Zeitlos ist auch die Gegenüberstellung der starken und souveränen Pippi mit dem Geschwisterpaar Tommy und Annika, das durch Pippi an Selbstbewusstsein gewinnt, und der Konflikt zwischen kindlichem Wunsch nach Unabhängigkeit und dem Kontrollbedürfnis der Erwachsenen.“


Das Buch „Pippi Langstrumpf“ war Astrid Lindgrens erstes Werk und Startschuss für eine unvergleichliche Karriere als Schriftstellerin. Mit einer Gesamtauflage von gut 165 Millionen Büchern mutierte die Schwedin, die auf dem Hof Näs bei Vimmerby aufwuchs, zu einer der bekanntesten Kinder- und Jugendbuchautorinnen der Welt. Ihre Geschichten über Pippi, Michel aus Lönneberga, Ronja Räubertochter, Kalle Blomquist, Mio oder Karlsson vom Dach erschienen in mehr als 100 Sprachen.

Sie schenkte der Welt mit "Pippi" den Prototyp eines starken Mädchens und schöne Kindheiten: Astrid Lindgren (1907-2002)
Sie schenkte der Welt mit "Pippi" den Prototyp eines starken Mädchens und schöne Kindheiten: Astrid Lindgren (1907-2002) © AP


Geschrieben hat es Lindgren für ihre damals kranke siebenjährige Tochter Karin. Zum zehnten Geburtstag schenkte sie ihr das Manuskript. Lindgrens Motto für Pippi Langstrumpf lautete, dass man Macht haben kann, ohne sie zu missbrauchen. „Die Faszination an Pippi besteht darin, dass sie sich Dinge erlaubt, die in der Regel sanktioniert werden“, sagt Bettina Kümmerling-Meibauer. Insbesondere gegenüber Kindern zeichne sie sich durch „freundliches und großzügiges Verhalten aus, sie rettet zwei Kinder aus einer Feuersbrunst und hat eine überbordende Phantasie. Das zeigt sich in dem Erfinden von Nonsens-Geschichten und überraschenden Spielen“, so die Lindgren-Expertin.


„Sei mehr wie Pippi, nicht wie Annika“ – diese Phrase ist beinahe schon zum Schlachtruf geworden. Stimmt es, dass Annika so wenig mutig und selbstbestimmt war? „Tommy und Annika gewinnen durch die Begegnung mit Pippi an Selbstvertrauen.

Wunderschöne Kindheitserinnerungen: Pippi, Annika, Thommy
Wunderschöne Kindheitserinnerungen: Pippi, Annika, Thommy © FilmPublicityArchive/United Arch

Selbst Annika traut sich zu, auf Bäume zu klettern und allerlei Unsinn anzustellen. Die Geschwister stellen einen Gegenpol zu Pippi dar, insofern, als sie ihre Verhaltensweisen gelegentlich kritisieren und auch Meinungen vertreten, die nicht mit denjenigen von Pippi übereinstimmen“, erläutert Kümmerling-Meibauer. Nachsatz: „Da sie im Gegensatz zu Pippi nicht über besondere Fähigkeiten verfügen, verkörpern sie gleichsam ,normale‘ Kinder, die aber durchaus selbstbestimmt agieren.“

Ein Aspekt, so die Universitätsprofessorin, werde dabei völlig ausgeblendet: „Pippi weigert sich, erwachsen zu werden – man denke an die berühmte Szene mit der Krummelus-Pille. Der Wunsch, nicht erwachsen werden zu wollen, ist nicht neu. Doch daraus ergibt sich, dass Pippi sich nicht entwickelt. Dass Kinder sich verändern und weiterentwickeln, ist aber ein essenzieller Schritt zur kognitiven und emotionalen Reifung – und dieser Aspekt sollte auch bei der Frage nach dem Vorbildcharakter von Pippi mitbedacht werden.“ Im Übrigen hätten Interviews mit Kindern gezeigt, dass sich diese viel eher mit Tommy und Annika identifizieren als mit Pippi.