Die gute Nachricht zuerst: Der steirische herbst endet am Sonntag nicht. Die Laufzeit von Paranoia TV, dem Internet- und App-Schauplatz des Festivals 2020, wird bis 31. Dezember verlängert. Die Inhalte des Festivals werden damit 100 Tage lang zugängig sein, und nicht nur, wie mittlerweile gewohnt, drei Wochen.

Die „radikale Antwort“ auf die Coronakrise, nämlich das Festival gutteils ins Netz zu verlegen, habe „den Nerv der Zeit getroffen“, befand herbst-Intendantin Ekaterina Degot beim gestrigen Bilanzgespräch. Fast 25.000 Besucher aus 117 Ländern verzeichnete Paranoia TV. Bisher wurde auf die heuer für den herbst produzierten Talkshows, Spiele, Filme und Serien knapp 66.000 Mal zugegriffen. Insgesamt hätten User in den drei Festivalwochen also rund 3100 Stunden bzw. 125 Tage mit Paranoia TV verbracht, rechneten Degot und ihr Team vor.

„Museen müssen das bessere Netflix werden“, hat jüngst der Kurator und Medientheoretiker Peter Weibel im „Monopol“-Magazin gefordert. Insofern wäre Degots Entscheidung die richtige. Zumal sich in herbst-Formaten wie Ingo Niermanns „Deutsch Süd-Ost“ oder Lina Majdalanies und Rabih Mroués „Second Look“ tatsächlich abgezeichnet hat, was die Intendantin „neue hybride Formen, neue Genres“ nennt.

Kreative Lösung auf Notlage

Dennoch war die Idee, das Festival fast zur Gänze ins Digitale zu verlagern, wohl vor allem eine kreative Lösung für die Notlage, in der sich derzeit alle Kulturveranstalter befinden. Sie bot die Möglichkeit, das Festival – unabhängig von der Entwicklung der Corona-Situation – stattfinden zu lassen. Eine Möglichkeit, die etliche andere Festivals im Frühjahr nicht erkannt oder nicht gewagt haben.

Doch gerade diese Idee wirkte einige Monate später bereits etwas antiquiert – speziell angesichts dessen, was andere Festivals wie styriarte, La Strada, Salzburger Festspiele, Wiener Festwochen seit dem Sommer an Live-Ereignissen zustande gebracht haben. Der Abzug ins Digitale wirkt da umso mehr wie ein Rückzug. Die Kunsterfahrung wird extrem individualisiert, man bleibt einsam mit dem Kunstwerk. Insofern zeigt die Krise auch, wie essenziell Live-Kunst ist. Wenn man schon an das Sinnstiftende von Kunst und Kultur glauben mag, gewinnt ein Festival in Krisenzeiten dadurch an Bedeutung, dass es dem Bedürfnis nach sozialer Verbundenheit entgegenkommt.

Die enorme soziale Bedeutung von Kunstfestivals liegt im gemeinsamen Erleben sowie im Davor und Danach, in der Pflege des Gesellschaftlichen – nicht als Nabelschau oder Selbstbeweihräucherung, sondern im Austausch zwischen Künstlerschaft und Publikum. Der aber blieb in diesem steirischen herbst in erster Linie den Festivalpartnern überlassen, die das sogenannte Parallelprogramm bestritten. Das stubenrein-Festival, das Literatursymposion „Out of Joint“, der Ausstellungsparcours in Grazer Galerien, die Konzerte des musikprotokolls boten die Live-Ereignisse, die im primären herbst-Programm spärlich gesät waren – und mit Projekten wie Janez Jansas „Das Finale“, Lulu Obermayers „L’Opra Fatale“ und Alexander Chernyshkovs „Keep in Mind“ auch noch ein enormes qualitatives Gefälle zeigten.

Insgesamt versammelte dieser herbst 55 Auftragsarbeiten von 52 Kunstschaffenden und Kollektiven. Das stattliche Budget von rund vier Millionen Euro wurde eingehalten, aber das finanziell mit Abstand größte Festival der Steiermark wirkt in der lokalen Kunstszene und öffentlichen Wahrnehmung marginalisiert. Für Ekaterina Degot bleibt für die nächsten zwei Ausgaben, die sie zu verantworten hat, also viel zu tun. Ob man den herbst nächstes Jahr in ähnlicher Form fortsetzen werde, sei ungewiss, sagte sie der Kleinen Zeitung: „Natürlich vermissen wir die Formate im öffentlichen Raum.“ Immerhin steht der Termin bereits fest: 23. September bis 17. Oktober 2021.