Ihr neuestes Buch „Das große Welttheater“ rangiert gerade in den Bestsellerlisten. Schreiben Sie bereits über ein Welttheater der Coronazeit?

Ich schreibe immer irgendetwas, aber nicht über Corona. Man kann aber schon sehen, wohin die Reise geht.

Wohin geht sie?

Es geht um die Frage, wie wir Gesellschaften konstruieren, die die Krise überstehen können. Die Krise hat uns vieles deutlich gemacht. Auf kleinem Niveau, allein zu sein, auf größerem die Schwachstellen unserer sozialen Systeme. Manche hatten Zugang, andere nicht. Manchen Kindern wurde geholfen, anderen nicht.

Sie haben sich immer wieder mit der Frage beschäftigt, welche Geschichten sich Gesellschaften erzählen und wie diese Geschichten eine Landkarte von Gegenwart und Zukunft zeichnen. Welche Geschichten werden wir über Corona erzählen?

Der Plural ist wichtig, weil es unterschiedliche geben wird. Eine solch starke Erfahrung ist ja keine Läuterungsgeschichte, in der Gesellschaften besser daraus hervorgehen und endlich die Wahrheit eingesehen haben. Solche Ereignisse werden unterschiedlich interpretiert. Es wird eine Art Krieg der Geschichten geben. Es gibt Leute, die sagen, wir wollen weniger Globalisierung, und dass die Krise gezeigt habe, wie verwundbar uns die Globalisierung gemacht hat. Andere sagen, wir müssen stärker auf Nationalstaaten aufbauen, andere meinen, es könne nur globale Lösungen geben.

Einer Ihrer Lösungsansätze lautet, dass wir den Menschen neu denken müssen. Bestärkt Sie darin die aktuelle Krise, die uns überfallsartig unsere Verletzlichkeit gezeigt hat?

Ja, das kann man nutzen, Ich weiß aber nicht, ob Trump das auch so sehen wird. Es geht darum, dass das Prinzip unserer Gesellschaft expansiv ist. Wir wollen erobern, beherrschen, dominieren. Das ist die DNA unserer Kultur. In der Bibel steht schon: Mach dir die Erde untertan. Diese Ideologie ist aber so schädlich geworden, dass sie vom Erfolgsrezept zu einer Art langsamem Selbstmord geworden ist. Wir können nicht immer mehr begrenzte Ressourcen verbrauchen, immer mehr CO2 in die Luft pumpen, immer mehr Plastik in die Ozeane füllen. Die Erzählung, wir seien die Herren der Schöpfung, war lange erfolgreich, sie kann aber nicht mehr stimmen. Die Erde ist stärker als wir.

Welche Erzählung ergibt sich dann für Gegenwart und Zukunft?

Wir müssen uns fragen, was es für unser Menschenbild bedeutet, nicht mehr Herr der Schöpfung zu sein. Dann sind wir nicht mehr über der Natur, sondern in der Natur.

Das zeigt auch Corona.

Ja, das hat es uns gezeigt. Die höchstentwickelten, reichsten, komplexesten Gesellschaften, die der Planet je gesehen hat, der größte globale Markt, ist innerhalb von Tagen stillgestanden, weil wir eben nicht über der Natur stehen. Das hat uns daran erinnert, wie verwundbar und eingebettet in die Natur wir sind und dass unsere Vision von uns selbst mehr theologisch als natürlich ist.

Sie sagen, es starre uns die drohende Katastrophe oder die historische Chance ins Gesicht. Was muss sich ändern, damit die historische Chance sich durchsetzt?

Wir müssten aufhören, einen Krieg gegen die Zukunft zu führen. Wir müssen aufhören, mehr Ressourcen zu verbrauchen, als vorhanden sind. Es geht aber nicht nur um Verzicht, sondern dass man Qualität anders versteht. Nehmen wir einen Betrieb. Er ist da, um Profit zu machen. Wie wäre es, wenn wir anfangen, diesen Profit anders zu beschreiben und wenn wir sagen: O. k., das ist der Profit, er ist wichtig. Wie aber schaut der soziale Profit der Firma aus, wie die Umweltbilanz, wie die kulturelle Bilanz? Wir müssten Qualität anders definieren und nicht nur als etwas, das wir zählen können. Wenn das gelingt, wäre schon eine Menge an Umorientierung gewonnen.

Welche Maßnahmen für eine solche Umorientierung stellen Sie sich außer einer neuen Definition von Profit vor?

Mit den Methoden des Marktes und nach dem Prinzip des persönlichen Kurzzeitprofits lässt sich das Klimaproblem nicht lösen, vielleicht mit der Idee eines kollektiven Langzeitprofits. Oder wenn wir Kindern oder dem Ökosystem einklagbare Rechte geben. In Neuseeland gibt es nun einen Fluss, der eine juristische Person ist. Man kann ihn vor Gericht vertreten und seine Interessen einklagen. Vielleicht gehen wir mit der Natur anders um, wenn sie eine juristische Person ist. Es bräuchte aber auch politische Maßnahmen. Es könnte jeder ein CO2-Budget für ein Jahr bekommen. Wer dann auf die Fidschi-Inseln fliegen will, müsste mehr bezahlen, weil es das persönliche Budget verdreifacht.

Wie optimistisch sind Sie, dass es zur Neuorientierung kommt?

Es gibt wenig Grund, optimistisch zu sein, aber ich bin auch nicht so alt, um in der Erwartung des Zusammenbruchs leben zu wollen. Unsere Identität hängt heute davon ab, welche Marke am Auto steht, welches Logo am Hemd. Wenn Konsum das nicht mehr leisten kann und soll, müssen wir uns überlegen, wie Achtung entsteht. Es ist natürlich eine riesige Aufgabe, genug Menschen in einer Demokratie dazu zu motivieren, solche radikalen Veränderungen hinzunehmen.

Stichwort Radikalität. Wenn jemand vor einem Jahr gesagt hätte, alle Spanier, Italiener, Österreicher würden sich über Monate in ihren Wohnungen einsperren, weil ein Chinese eine Fledermaus gegessen hat, wäre er bestenfalls als Spinner verlacht worden. Könnte die Akzeptanz dieser radikalen Maßnahmen nicht auch eine neue Ausgangslage für eine grüne Revolution sein?

Das wäre zu hoffen. Im Moment geht die Überlegung aber dahin, wie man die Wirtschaft wieder hochfahren kann und wie man schnell wieder auf das Niveau von früher kommen kann. Das ist verständlich, weil wir alle wirtschaftlich unter Druck stehen. Es ist aber jetzt eine Chance zu sagen: Wollen wir das wieder hochfahren wie zuvor? Was ist richtig, was schädlich? Wir sind in einer echten historischen Notsituation und wir sind zufällig die Generation, die da hineingeschubst wurde. Wir haben uns das nicht ausgesucht, wie auch andere Generationen vor uns es sich nicht aussuchen konnten.

Ein Zukunftsforscher meinte, künftig werden vor allem gute Nachbarn und blühende Gemüsegärten wichtig sein.

Das finde ich wunderbar idyllisch. Gute Nachbarschaft? Objektiv würde ich sagen, dass das richtig ist. Wir werden gute Nachbarn sein müssen, wir werden auch global denken müssen. Wenn letztes Jahr pro Minute 30 fußballfeldgroße Regenwälder verbrannten, hat das auch eine Wirkung auf Österreich. Aber was macht man, wenn Bolsonaro sagt: Nett, was Europa sagt, aber das interessiert mich nicht?

Sie sagen, das Umweltproblem sei kein intellektuelles, sondern das Problem sei, dass es denen, die die Möglichkeit hätten, etwas zu ändern, materiell so gut geht wie noch nie.

Wir sind alle reicher, als unsere Großeltern gewesen sind. Sogar die armen Menschen haben mehr als früher. Subjektiv entwickeln sich viele Dinge gut. Es ist aber, wie wenn man mit einem Auto 300 km/h fährt und nur mehr zehn Prozent im Tank hat. Da muss sich etwas ändern.

Wird die Coronakrise nach Ihrer Einschätzung zur Bereitschaft beitragen, etwas zu ändern?

Ich glaube, dass das niemand weiß. Dafür ist die Situation zu komplex. Ich hoffe aber, dass es mehr sein wird als nur, dass wir uns nicht mehr die Hand geben und dass es eine Debatte auslösen wird über Alternativen zum bisherigen Leben. Menschen haben eine Notsituation erlebt, aber auch eine Situation, in der sie gesehen haben, dass das Leben anders sein könnte. Ich glaube, dass dieser Moment und dieses Bewusstsein uns nicht mehr verlassen werden.

Jene, die aufgrund des Lockdowns um ihre Existenz zittern und kämpfen, werden es anders sehen.

Selbst wenn das ein schwieriges wirtschaftliches Erbe haben wird und wir eine starke Wirtschaft brauchen, war dieser Moment einer Alternative wichtig. Er kann uns alle lehren, dass es vielleicht auch eine andere Art zu leben gibt, eine, die weniger zerstört. Wenn das bliebe, wäre schon viel gewonnen.