Am 5. Juli 1954 nimmt Elvis Presley im Sun Studio Memphis „That’s All Right (Mama)“ auf. Der Song, der zur ersten Single Presleys wird, ist die Coverversion einer Nummer des Bluessängers Arthur Crudup. Sein Text ist doppeldeutig: Meint das beschwichtigende „Das ist schon recht, Mama“, dass man den Rat der Eltern befolgt, und sich nicht mehr mit dem Mädchen abgibt, vor dem sie warnen? Oder ist es das Gegenteil? Am Ende schummelt Elvis zwischen viele „di-di-didis“ noch ein „ich brauche deine Liebe“ hinein. Welche Liebe? Die der Mutter? Die des Mädchens? In Crudups Original fehlt diese letzte Zweideutigkeit.
Der Song, der oft als der erste der Rockgeschichte bezeichnet wird, bringt das Dilemma von Elvis auf den Punkt. Der aus ärmlichen Verhältnissen stammende Hinterwäldler aus dem Süden der USA wird zur Galionsfigur einer Rebellion: der Jugendkultur Rock ’n’ Roll, der die Auflehnung gegen die ältere Generation in die DNS eingeflochten ist. Ein paar Jahre später wird es heißen: „Trau keinem über 30.“ Schon gar nicht den Eltern, kann man hinzufügen. Und dennoch vergötterte dieser einzigartige Mann und Musiker seine Mutter bis ans Ende seiner Tage. Die innige Beziehung zu Mutter Gladys und die kühle zu Vater Vernon kann als stellvertretend für die Situation vieler US-Familien damals gelten. Der Vater fort im Krieg, der sich als Ersatzmann fühlende Sohn im Haus. Bei den Presleys hatte die Abwesenheit des Vaters indes andere Gründe: Der leichtfertige Vernon saß beizeiten im Gefängnis, während die Bindung zwischen dem Buben Elvis und der auf Fotos fast immer frostig bis verbittert dreinschauenden Mutter Gladys immer tiefer wurde.

Beim frühen Tod von Gladys – Elvis ist erst 23 – spricht der zum Superstar avancierte von „seinem Mädchen“. Sigmund Freud hätte seine helle Freude daran gehabt. Wie überhaupt an der ödipal angehauchten Sprachregelung im US-Slang. „Mama“ bedeutet auch „attraktive Frau“, „Braut“. Deshalb ist, immer wenn in der amerikanischen Popmusik von „Mama“ die Rede ist, Vorsicht geboten. Bob Dylans unverschämtes Flehen in „Tell Me, Momma“ ist keineswegs an eine imaginäre Mutter gerichtet. Dutzende weitere Songs sprechen eine ähnliche, wenn auch nicht die geschliffene Sprache Dylans.
Die Rock-’n’-Roll-Generation der väterfernen Kriegssöhne hat bei ihrer Mutterverehrung freilich Zerrbilder gezeichnet. Die Literaturwissenschaftlerin Silvia Bovenschen schrieb in ihrem Klassiker „Die imaginierte Weiblichkeit“ davon, dass die „Geschichte der Bilder des Weiblichen ebenso materialreich“ sei wie die „Geschichte realer Frauen arm an überlieferten Fakten ist“. Womit vor allem das 18. und 19. Jahrhundert gemeint ist, aber auch im 20. Jahrhundert wirkt dieses Phänomen nach. Männer sind die Urheber jener Bilder, die die Popmusik von der Welt, insbesondere den Frauen millionenfach zirkulieren lässt. Einfühlsam sind diese Bilder manchmal mehr (sagen wir bei Leonard Cohen), manchmal weniger (sagen wir bei Mick Jagger), doch unabhängig davon bleiben es Zuschreibungen, Projektionen. Geschaffen, interpretiert, vervielfältigt und beworben aus männlicher Perspektive.

Das Spektrum der Mütterbilder reicht da von den schmalzigen Beschwörungen der einzigen reinen, echten Liebe bei Heintje und der picksüßen Stilisierung zur Heiligen in Drafi Deutschers „Mama Leone“ bis zu ganz großer Kunst. Etwa John Lennons „Mother“, einem Bekenntnissong, in dem er seine traumatische Kindheit verarbeitet, die Parallelen zu jener von Elvis zeigt. Johns Vater fuhr lieber zur See, und die innige Beziehung zu Mutter Julia zerbrach, als sie ihn ihrer Schwester in Obhut gab. Julia starb bei einem Autounfall, Lennon war 17. „Mother“ von 1970 ist letztlich kein Lied über seine Mutter, sondern eines über einen von den Eltern verlassenen, verzweifelten Sohn, der seine Anklage durch Wiederholung ins Dramatische steigert: „Mutter, geh nicht fort. Vati, komm heim.“ Schon zwei Jahre zuvor, also noch zur Beatles-Zeit, hatte Lennon in „Julia“ seine komplexen Gefühle gegenüber seiner Mutter artikuliert. Mit der textlichen Hilfe von Yoko Ono. Wobei der Beziehung Ono/Lennon oft ödipale Elemente attestiert worden sind.
Jenseits der Idealisierungen, Projektionen und Anklagen der Söhne muss man schon tiefer in der Popgeschichte graben, um bei den Töchtern zu landen. Eine Folge der schon erwähnten Geschlechterverteilung: Die Männer sind im Pop als Schöpfer tätig, als Songwriter, Interpreten und Produzenten, während die Frauen, wenn sie überhaupt Eingang in diese Welt finden, auf die Rolle der Sängerin beschränkt bleiben. Diese Situation ändert sich nur allmählich. Es gibt wenige prominente Mutter-Tochter-Songs, wobei die meisten aus dem Bereich Country stammen. Dort, wo familiäre Werte und der Zusammenhalt mehr zählen als Rebellion und alternative Lebensentwürfe, entstanden wenig überraschend eher glatte, gefällige Mütterlieder. Selbst so eminente Country-Künstlerinnen wie Dolly Parton und Taylor Swift bieten bei diesen Themen keine Offenbarungen. Und das berühmte „Where You Lead“ von Carole King, das durch die Verwendung als Titelmelodie der TV-Serie „Gilmore Girls“ zur Mutter-Tochter-Hymne wurde, ist textlich keine Wucht. Kein Zufall: Ursprünglich richtete sich „Where You Lead“ an einen Partner. Es sind eher konventionelle Bilder der Zuneigung, die auf viele Situationen passen.
Vielleicht ist die solidarische Verbundenheit, das Verständnis, das sich in diesen und anderen Songs von Frauen ausdrückt, einfach der künstlerisch unbefriedigendere, doch menschlich sympathischere Zugang zur Mutter. Mögen die narzisstischen Rock-’n’-Roll-Söhne ihr Ego pflegen, die Töchter besingen lieber die Weisheit und Liebe der Mütter. 2014 schrieb Mark Kozelek alias Sun Kil Moon einen berührenden Song, dass die Liebe seiner 75-jährigen Mutter das Wichtigste in seinem Leben sei. Er könne auf alles verzichten, doch nicht darauf: „Wenn sie einmal gehen muss, werde ich selbst eingehen wie ein Zitronenbaum im Schnee, ich werde diesen Schmerz nicht ertragen.“ Dieser Song ähnelt denen eines Elvis, eines Lennon. Sie alle erzählen ein bisschen etwas über Mütter, aber alles über deren Söhne.