Es ist 7.44 Uhr morgens. Vor einem bodentiefen Glasfenster stehe ich ganz allein in einem geschlossenen Raum, der über die Bürgerbastei auf dem Schlossberg hinausragt. Von dort aus hat man einen weiten Blick auf die Stadt unter sich. Bei mir habe ich nichts. Weder meine Uhr noch mein Smartphone. Eine Stunde lang gilt es nur zu schauen, was in der Stadt vor sich geht, während sich die Sonne langsam über Graz erhebt. Ob eine Stunde herumstehen ohne Smartphone und Gesprächspartner langweilig wird? Das Schlagen der Turmuhr kündigt an, dass die erste Minute vorüber ist. Noch bin ich skeptisch . . .

Warum derzeit Menschen auf dem Schlossberg stehen und eine ganze Stunde lang auf die Stadt blicken? Für das Kunstprojekt „The Graz Vigil“ im Rahmen des Kulturjahrs 2020 sollen bis Ende Dezember jeden Tag zwei andere Bürger über ihre Heimatstadt wachen. Einer zu Sonnenaufgang, einer zu Sonnenuntergang.

Dunkelblau - Der Weg zum Ziel

Auf dem Weg auf den Schlossberg wird der Himmel von Schwarz langsam zu einem tiefen Dunkelblau. Es ist ganz ruhig. Bis auf einige wenige Läufer, die den Berg schon wieder herunter kommen, begegnet einem niemand. Damit alle Teilnehmer gut auf ihre Wache vorbereitet sind, gibt es zuvor einen Workshop der das Ziel des Projekts klären soll. Das Festival La Strada will gemeinsam mit Choreografin Joanne Leighton „Kunst in den öffentlichen Raum bringen“. Öffentlich ist der Aussichtspunkt, das „Shelter“, am Schlossberg definitiv. Man kann die Menschen in der Innenstadt sehen und von ihnen gesehen werden.

Hellblau - Absolute Ruhe

Die Tür des Shelters wird geschlossen, die Wacht beginnt. Der Himmel ist inzwischen hellblau. Das Shelter ist ein vier Meter langer und 1,30 Meter breiter Bau aus Holz. Am Ende befindet sich ein bodentiefes Fenster, das den Blick in Richtung Hauptplatz schickt. Das Ganze beginnt mit einem „Was ist Wo?“-Spiel: Kann man von hier aus zu seiner Wohnung sehen? Bewusste Beschäftigung hilft über die anfängliche Unsicherheit der neuen Situation gut hinweg. Aber durch die absolute Ruhe und die atmosphärische Stimmung des stärker werdenden Sonnenlichts treiben die Gedanken schon bald von alleine los und lassen ungeplante Beobachtungen machen.

Rosa - Graz durch die Brille der Verliebten

So früh am Morgen hat das Licht einen leicht rosa Stich. Wände, Wolken und Straßen schimmern wie durch die Brille eines Verliebten. Durch diesen rosa Schleier fliegt plötzlich ein großer tiefschwarzer Vogel direkt am Fenster des Shelters vorbei. Er segelt hinüber zur Franziskanerkirche. Lange scheint er zu überlegen, wo er sich niederlassen will, bis er ganz oben auf der Spitze landet.

© © La Strada Graz/ Martin Hauer

Orange - Verborgene Innenhöfe entdecken

Die Sonne hat sich inzwischen weiterbewegt und leuchtet in kräftigem Orange. Von hier aus kann man Menschen auf ihrem Weg durch die Stadt beobachten. Straßenbahnen halten, und das bunte Treiben nimmt minütlich zu. „The Graz Vigil“ soll neue Blickwinkel auf die Stadt eröffnen, in der man jeden Tag lebt. Die bekommt man hier definitiv. Man sieht Innenhöfe, die einem sonst verborgen blieben, und nimmt Menschen wahr, die man sonst nur als vorübereilende Schatten registrieren würde.

Gelb - Das Zeitgefühl verschwindet

Die Schläge der Turmuhr geben ein wenig das Zeitgefühl zurück, das sich hier aufzulösen scheint. Während das Licht mittlerweile ganz Graz in ein helles Gelb einhüllt, bewegt sich ein Mann ohne Sicherung über das Dach des Kaufhauses Kastner & Öhler, um Fenster zu putzen. Ganz alleine und völlig unbeobachtet kann man in einer Stadt wohl nur selten sein. Ein Gefühl der Gemeinschaft macht sich in der Einsamkeit des Shelters breit.

Weiß - Experiment geglückt

Klopfen reißt mich aus meinen Gedanken. Die Stunde ist vorbei, die Wacht zu Ende. Inzwischen ist es hell, fast weiß. Und ich? Nach einer Stunde Smartphone-Verzicht und bewusst unbewusster Konzentration fühle mich erholter als je zuvor. Das Experiment ist geglückt und hat mir eine Stunde nur mit mir selbst und doch in der Geborgenheit meiner Stadt beschert.