Es gibt eine Redensart: Jemand, der allen Ernstes glaubt, eine Seele zu haben, gehört zum Seelenarzt. Schon längst ist der Mensch Gegenstand der wissenschaftlichen Forschung. Überliefert wurde der Ausspruch des bereits zu Lebzeiten berühmten Pathologen Rudolf Virchow - er arbeitete ab 1856 am Berliner Krankenhaus Charité -: Tausende von Leichen habe er seziert, aber dabei keine Spur einer Seele entdeckt.

Mir wurde am Gymnasium im Naturkundeunterricht anlässlich dieses Ausspruchs - er ist anscheinend erfunden - eingeschärft, hier sei der Wissenschaftler zu weit gegangen. Warum, erklärte man mir nicht, fest stand nur, in der nächsten Stunde gab's Religionsunterricht.

Tatsächlich verkörpert einer, der so redet, wie Virchow es getan haben soll, noch heute für viele Menschen, und nicht nur für Strenggläubige, einen Materialisten. Und „Materialist“ - das ist im Volksmund ein Schimpfwort; denn das ist einer, für den die materiellen Güter das Wichtigste im Leben ausmachen. Und wo bleibt dann der tiefere Sinn, wo das Geistige?

Nun, diese Frage hatte stets einen moralinsauren Klang. Außerdem war Virchow ganz und gar kein Materialist im groben Sinne des Wortes, sondern ein hochgebildeter Mann und äußerst verdienstvoller Arzt. Die Attacken gegen ihn werden meist vorgetragen, um die Aufklärung zu bekämpfen.

Was ist schlimm an der Aufklärung? Dass sie nicht bereit ist, sich - um Immanuel Kant zu zitieren - dem „Afterglauben“ hinzugeben, also solchen Glaubenshaltungen, die das Ergebnis von Wahn, Einbildung und einer verhängnisvollen Leichtgläubigkeit sind. Kant hingegen, dem „Erhabenen“ durchaus zugetan, favorisiert methodisch jene Haltung, die die moderne Wissenschaft auszeichnet, auch die „Wissenschaft der Seele“, die Psychologie.

Ohne ideologischen Staub aufzuwirbeln, hat die Wissenschaft den Menschen längst zu einem Forschungsobjekt gemodelt, das sich fugenlos in die Naturprozesse eingliedert. Und solche Prozesse, vom Urknall vor vielen Milliarden Jahren bis zur Entstehung der humanen Erbsubstanz, bedürfen keiner Begriffe, die aus der Sphäre des Religiösen stammen. Die „Seele“ indessen ist ein derartiger Begriff.

Nach Ansicht der modernen Aufklärer, der sogenannten Naturalisten, gehört die Seele zu einem vielgliedrigen „Gespenst in der Maschine“. Die Maschine, das ist unser Körper, dem unser Bewusstsein zugeschlagen wird. Warum? Weil alle Bewusstseinsfunktionen - Gefühl, Erleben, Erinnerung, Denken - eine körperliche Grundlage haben. Jene Funktionen, so belehrt uns die Forschung, bleiben abhängig vom Funktionieren des Gehirns. Ferner produziert unser Körper verschiedenste Hormone, davon hängt unser emotionales Befinden ab. Weithin bekannt ist das „Glückshormon“ Dopamin, ebenso das „Sexualhormon“ Testosteron. Kurz, die Psychologie hat in Zusammenarbeit mit der Neurologie zu der Ansicht geführt, unser Glaube, wir hätten ein Ich und einen darin eingebetteten freien Willen, sei nichts weiter als Wunschdenken.

Demnach gilt: Vieles in meinem Leben mag Ergebnis des Zufalls und der Umstände sein, doch gewiss nicht des Wirkens einer Seele. So werde ich von Spitzenbiologen belehrt, die Atheisten sind und gelegentlich Bestseller schreiben. Richard Dawkins publizierte jüngst die Fibel „Atheismus für Anfänger“. Darin kann man zum x-ten Mal nachlesen: Was früher die Religion mit ihren Mythen, Fabeln und Märchen begreiflich zu machen suchte, nämlich die „Erschaffung“ der Pflanzen, Tiere und des Menschen durch Gott, erkläre nun, seit Charles Darwin, die gottlose Evolutionstheorie.

Allerdings wird von den Propagandisten des wissenschaftlichen Weltbildes über vieles hinweggeredet. Dass unsere sinnlichen und geistigen Aktivitäten allesamt körperlich fundiert seien, scheint unbestreitbar; trotzdem bleibt es eines der großen Rätsel, wie aus toter Materie jemals ein Funken Bewusstsein entstehen konnte. Die spekulativen Geister und metaphysischen Feuerköpfe stellen die Frage, ob nicht schon im Urknall empfindsam Seelisches gleichsam eingekapselt gewesen sei. Die lakonische Erwiderung lautet: Mag sein, oder auch nicht.

Was wir hingegen wissen, ist Folgendes: Wir sind keine fühllosen, verständnislosen Maschinen. Wir reden von uns unter Verwendung des Wörtchens „ich“. Wir können uns als moralische Subjekte nur begreifen - und daher als verantwortlich für das, was wir tun -, sofern wir davon ausgehen, dass wir einen freien Willen haben. Aber haben wir eine Seele? Hier scheiden sich Geister und Welten. Einst war es üblich zu glauben, dass unser Atem mit dem Seelenhaften eng verbunden sei. Noch heute sprechen wir redensartlich davon, dass der Mensch beim Tod seine Seele „aushauche“.

Das Totenreich der Griechen war ein trostloser Ort

Doch bevor wir den Verlust des alten Seelenglaubens allzu sehr bedauern, sollten wir uns dessen versichern, auf welche Weise unsere Vorfahren die Sache betrachteten. Die Antwort: vielfältig, unterschiedlich, keineswegs immer tröstlich. Ob man seelisch nach dem Tode weiterleben werde, war in vielen Kulturen eine Frage des Standes, man denke an die Prozeduren des Weiterlebens im Ägypten der Pharaonen, die ihren ganzen „Hausrat“ und ihre Krieger mit auf die Reise ins Jenseits nehmen mussten. Demgegenüber war das Totenreich der alten Griechen ein ziemlich trostloser Ort der Schatten. Manche Religionen kennen einen blassen Himmel, dafür aber eine brennende Hölle, in der sich die Körper winden. Wieder andere Religionen lehren die Zerstörung des individuellen Selbst, lassen die Seele im All aufgehen oder mobilisieren ein „Rad der Wiedergeburten“.

Wie immer, unser Seelenbegriff ist zusehends zu einer Sache des außerwissenschaftlichen Glaubens geworden. Dabei hat er eine durchaus rationale Grundlage. Es handelt sich darum, dass wir, als lebendige, Ich-begabte, autonome Individuen nicht auf Physik und Chemie reduzierbar sind. Wir sind wesentlich mehr. Wir reichen über alle Genetik hinaus. Und wir sind nicht aufs Psychologische zu begrenzen, entgegen dem Dogma einer Psychologie, die ihrerseits „materialistisch“ denkt. Aber was heißt das? Dürfen wir hoffen, dass etwas an uns unsterblich ist? Fest steht, dass wir ohne Körper nicht die sein können, als die wir uns im Leben erfahren.

Das ist traurig. Und doch besuchen wir unsere Toten an ihren Gräbern; wir denken an sie, als ob wir ihnen dereinst wieder begegnen würden. Darüber belehrt, dass dies ein haltloses Hirngespinst sei, sollte uns der Erste Korintherbrief des Apostels Paulus, zumal in Luthers inspirierter Übersetzung, Trost spenden: „Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunklen Wort, dann aber von Angesicht zu Angesicht“ (13,12). Im Spiegel der Schrift erschauen wir uns, ahnungsvoll, als „Abbild Gottes“. Das muss, solange wir leben, genügen: Wir sind Bewohner mehrerer Welten.