"Nennt mich Ismael.“ Mit diesem längst legendären Satz beginnt eines der wichtigsten Werke der Weltliteratur: „Moby-Dick“. 1851 erblickte das monströse Epos, vordergründig als Abenteuerroman erachtet, das Licht der Literaturwelt, um alsbald wieder in der Finsternis zu verschwinden.

Die Kritiken fielen vernichtend aus, lediglich 3000 Exemplare wurden zu Lebzeiten des Dichters verkauft. Und als Autor, der auch privat permanent familiären, finanziellen und gesundheitlichen Schiffbruch erlitt, grub sich Melville kurze Zeit nach Erscheinen des völlig verkannten Mythen-Monsters sein eigenes Grab.

In der Erzählung „Bartleby, der Schreiber“ schildert er subtil, leicht verklausuliert und hintergründig die aussichtslose Lage eines erfolglosen Schriftstellers, der an der Ignoranz und am Unverständnis der Mitmenschen scheitert – und verstummt. Eine Parabel, die von den Kritikern als Frontalangriff erachtet wurde. Melville schrieb weiterhin, vorwiegend Gedichte, ehe er mit dem knapp 18.000 Verse umfassenden Epos „Clarel“ über eine Pilgerreise ins Heilige Land nach Jahren der Depressionen und Selbstzweifel noch einmal seine dichterische Größe unter Beweis stellte. Allein der Schriftsteller Melville war in der Öffentlichkeit nicht mehr präsent, seinem Tod im Jahr 1891 widmete die „New York Times“ eine sarkastische Kurznotiz.

Es dauerte noch einige Jahrzehnte, ehe Tragweite und Bedeutung dieses archaischen, mit alttestamentarischer Wucht, einer Unzahl an Querbezügen und sprachlicher Radikalität verfassten Versuchs eines Universalromans erkannt wurden und er den ihm gebührenden Stellenwert als Mythos der Moderne erhielt. Der wahnwitzige Versuch des diabolischen Kapitäns Ahab, einem großen Diktator gleich der Natur den Kampf anzusagen, seine Besessenheit, den weißen Wal zu töten, hat beklemmende, zeitlose und aktuelle Symbolkraft. Dass Shakespeare zu Melvilles Vorbildern zählte, offenbart sich in etlichen Passagen, die das Schiff in eine Bühne verwandeln. Macbeth wird ebenso herbeizitiert wie König Lear, die Bibel lieferte dem Autor etliches Basis- und Anspielungsmaterial.

Tanzte als Erzähler auf unterschiedlichsten Ebenen

Auch stilistisch war Melville, der zehn Jahre vor der Niederschrift seines Buches als Matrose auf einem Walfänger in die Südsee segelte, seiner Zeit weit voraus. Er pfiff, speziell bei der Sprache der Seeleute, auf jegliche grammatikalischen Regeln, er jonglierte mit Wortspielen und sprachlichen Neukreationen, die ihn in die Nähe von JamesJoyce rückten, er tanzte als Erzähler auf unterschiedlichsten Ebenen, bezog Abstecher in die Philosophie ebenso mit ein wie naturwissenschaftliche Betrachtungen. Aber er tat es stets in der Gewissheit, an einem schier endlosen Thema zu scheitern. „Mein ganzes Buch ist nur ein Entwurf – nein, nur der Entwurf zu einem Entwurf. Ach, Zeit, Kraft, Geld und Geduld“ – so lautet die Erkenntnis in einer recht frühen Passage von „Moby-Dick“.

Hinzu kam, dass Melville unter enormem Zeitdruck stand. Die ersten Kapitel gingen bei seinem Londoner Verlag bereits in Druck, er schrieb dennoch einige Episoden um und fügte neue Einschübe dazu – mit verheerenden Konsequenzen. Das Buch wurde schlecht bis gar nicht lektoriert, die Erstausgabe war enorm reich an Tippfehlern. Da das Originalmanuskript verschwand, kursierten Jahre später unterschiedlichste Übersetzungen, oft radikal gekürzt, oft recht frei gedeutet. Nicht wenige Experten meinen mittlerweile, dass das Buch eigentlich unübersetzbar sei.

An der Faszination, die „Moby-Dick“ ausübte und ausübt, ändert das wenig. Mehrmals wurde die Geschichte verfilmt, durch die Gruppe LedZeppelin landete der Leviathan in der Popmusik, durch zahlreiche Maler im Lager der bildenden Kunst. Ein „verruchtes Buch“ habe er verfasst, schrieb Melville an seinen großen Dichterfreund NathanielHawthorne. Mag sein, dass er deshalb, nach einer Höllenfahrt durch eine schaurig leere und wüste Welt, am Ende fast gnädig das „große Leichentuch des Meeres“ wogen lässt.

Heute wäre ein Gutteil dieses Tuches aus Plastik. „Die Wahrheit ist den Menschen lächerlich“, schrieb Melville, der vor Augen führte, wer das wahre Ungeheuer ist. Man sollte ihn lesen, immer wieder.