Als das Filmfestival Locarno vergangenen Sommer die Nachfolge von Direktor Carlo Chatrian verkündete, musste manch einer Lili Hinstins Namen googeln. Mit der Französin, damals noch Direktorin des kleinen Filmfestivals Belfort, hatte kaum jemand gerechnet. Es kursierten etwa die Namen der Solothurner-Filmtage-Direktorin Seraina Rohrer oder von Thierry Jobin, Leiter des Filmfestivals Freiburg.

Nun steht die erste Locarno-Ausgabe bevor und die Französin räumt dem Schweizer Filmschaffen gleich einen wichtigen Platz ein. Mit Fredi M. Murer ("Höhenfeuer", "Liebe und Zufall") ehrt sie nämlich einen der wichtigsten einheimischen Filmemacher mit dem internationalen Lebenswerkpreis. Und auch in Sachen Schweizer Spielfilm verspricht sie "überraschende und innovative Werke".

Für ein Interview führt die 42-Jährige das Filmteam von Keystone-SDA über die Piazza Grande, das Herzstück des Filmfestivals. "Ein Traumfestival" sei jenes in Locarno, sagt Hinstin und ergänzt, in den über zehn Jahren im Filmbusiness habe sie kein vergleichbares finden können.

Das "Traumfestival" macht für die Direktorin nicht nur die Ambiance der Piazza aus. "Locarno zeichnet eine unglaubliche Amplitude aus: Es zieht enorm viel Publikum an, und trotzdem werden filmisch keine Kompromisse gemacht." Das bedeute, dass Publikumswirksamkeit und Experimentierfreude nebeneinander Bestand hätten - und das sei wirklich selten bei einem Filmfestival.

Im Gespräch erst zurückhaltend, taut Lili Hinstin mehr und mehr auf - erst recht, als die Gleichstellung zur Sprache kommt. Die Französin, die in Frankreich und Italien Kulturwissenschaften studierte, ist nach Irene Bignardi erst die zweite Frau an der Spitze des Festivals, das immerhin 73 Jahre auf dem Buckel hat.

Eine Frauenquote etwa für den internationalen Wettbewerb einzuführen, in dem sich selten mehr als ein, zwei Regisseurinnen finden, ist für Hinstin aber der falsche Weg. Qualität vor Quote gilt auch weiterhin in Locarno: "Es wäre beleidigend für die Regisseurin, ihren Film nur zu zeigen, weil sie eine Frau ist." Logisch gebe es weniger Frauen in den Wettbewerben, wenn es generell weniger Filme von Frauen gebe.

Die Förderung der Gleichstellung beginnt für Hinstin wesentlich früher als beim fertigen Film: Es brauche bereits ein Umdenken bei der Unterstützung des Nachwuchses. Etwa müsse das Prinzip gelten, den weiblichen Nachwuchstalenten von Anfang an den gleichen Lohn zu zahlen wie ihren männlichen Kollegen. Denn noch immer gilt auch in der Filmbranche: Die Frauen erhalten traditionell bedeutend weniger Subventionen für ihre Werke.

Das Festival in Locarno hat noch im vergangenen Jahr unter dem alten Direktor Carlo Chatrian die Gleichstellungs-Charta der Branche unterschrieben. Das Locarno-Publikum ist "seinem" Filmfestival zum Teil seit Jahrzehnten treu. Hinstin will nun auch jüngeren Filmfans vermehrt den Zugang zum Festival ermöglichen. Ein Hindernis für das junge Publikum sind die astronomisch hohen Übernachtungspreise während des Anlasses. Neu stehen in einer ehemaligen Kaserne unter dem Titel "Base Camp" 200 billige Schlafplätze bereit.

Als weiterer Schritt wurde das Projekt "U30" ins Leben gerufen, das den Nachwuchs der Filmindustrie während dreier Tage an einen Tisch bringt und aktuelle Themen diskutieren lässt. Und die Mitternachtsfilme auf der Piazza werden in Zukunft "ziemlich trashig", wie Hinstin ankündigt - genau richtig also für ein Publikum, das offen ist für Radikales und spät zu Bett geht.

Spät zu Bett geht dieser Tage auch die Direktorin, denn in wenigen Tagen präsentiert sie mit ihrem Kreativteam das komplette Festivalprogramm inklusive Wettbewerbsfilme.