Bien chère Notre-Dame,
verehrte Gnädige Frau,

das ist eine lange Geschichte zwischen uns. Erlauben Sie mir also das vertrauliche Du. Ich war noch ein Bub, da zeigte mir mein Vater Dein Foto: „Schau, das ist Notre-Dame!“ Er kannte Dich seit den frühen 20er-Jahren, da stürzte er sich in Paris in den tollen Aufbruch der Moderne, Léger, Le Corbusier, Matisse etc., Du kennst sie alle, wahrscheinlich haben sie beim Vorübergehen an Deiner Fassade die klassischen Proportionen wahrgenommen, wodurch eine Ahnung von heiliger Geometrie in ihre Arbeit eingeflossen sein mag.

Modern, liebe Notre-Dame, warst Du von Anbeginn, als der Bischof Sully 1163 Deinen Grundstein legte. Der Bischof war extravagant genug, Dich im Stil einer spirituellen Avantgarde erbauen zu wollen. Die Gotik galt damals als letzter Schrei, als architektonische Fortführung der himmelstürmenden Mystik des heiligen Bernhard von Clairvaux. Modern bist Du geblieben, jung, mädchenhaft, charmant, ganz so wie uns die Gottesmutter Maria in den Bildwerken Deiner Erbauungszeit gegenübertritt. Es lag auch ein Farbdruck von Deiner südlichen Fensterrose bei uns daheim. Gibt es eine Vorstellung vom Himmel, welche an diesen Farbenrausch herankäme? Ich hatte mich in Dein Abbild, in Dich, verschaut – darf ich „verliebt“ sagen? –, lange ehe ich Dir in der Realität begegnen durfte.


Und dann der späte Abend des 13. Juli 1970. Der Express aus Wien war gerade in die Gare de l’Est eingefahren. Ich war orientierungslos, stieg in ein Taxi, um möglichst rasch in mein Sommerquartier im Zentrum zu gelangen. Das Datum hatte ich nicht bedacht. An diesem Vorabend des 14. Juli wird ganz Paris zu einem fröhlichen Tollhaus. Erst recht am Beginn der wilden 70er-Jahre. Die lange Rue Saint-Denis hinunter ein einziges Volksfest: zwischen und auf den Kühlerhauben der verkeilten Autos tanzende Jugendliche, Confettigestöber, Feuerwerkskörper, der Duft nach heißem Nougat und Cannabis, Gruppen tanzender Clochards mit Rumflaschen in den ausgebeulten Jackentaschen. Plötzlich, das Taxi fuhr über Deinen Vorplatz, Stille. Und Du. Heiter, erhaben über dem Trubel lächelte mir Deine Fassade zu.


Du weißt nur zu gut, am 14. Juli feiern die Menschen die Französische Revolution. Mit gemischten Gefühlen wirst Du Dich an dieselbe erinnern, es waren gefährliche Jahre für Dich. Während Jahrhunderten warst Du die unbestrittene Königin der Stadt und des ganzen Landes. Unter Deinen Gewölben waren einige der kostbarsten Reliquien der Christenheit geborgen, der Kranz aus Pflanzenfasern zum Beispiel, mit dem die Kriegsknechte die Dornenhaube über dem Haupt des Erlösers festgezurrt haben sollen; oder der Rock des heiligen Ludwig, des Stammvaters der „allerchristlichsten Könige“ Frankreichs, die wiederum ihre Sendung symbolisch von den Königen Israels herleiteten. Weshalb man Dein Westportal mit den monumentalen Statuen dieser jüdischen Könige schmückte.

In Deinen Mauern predigten die größten Theologen des Mittelalters wie Thomas von Aquin. Dante Alighieri betete hier, es donnerten die Predigten des eminenten Bossuet, eines der wichtigsten Stilisten meiner geliebten französischen Sprache, durch Dein Kirchenschiff. Du warst Zeuge der Hochzeit Maria Stuarts und des französischen Königs Franz II., der freilich früh verstarb, womit die Tragödie dieser Dame begann. König Ludwig XIII., der Vater des „Sonnenkönigs“, weihte hier ganz Frankreich der Gottesmutter, eben Notre-Dame, deren Namen Du trägst. Die barocken Skulpturen auf Deinem Hochaltar stellen diese Weihe dar.

Ach ja, der 14. Juli 1789 und seine Folgen für Dich. Mit einem Mal war die französische Aufklärung gewissermaßen übergeschnappt. Mit einem Furor sondergleichen beraubte man Dich Deiner Schätze, man enthauptete die steinernen Könige Israels und auf den Hochaltar setzte man eine leicht bekleidete Schauspielerin. Sie sollte die „Göttin der Vernunft“ darstellen und als solche verehrt werden. Vermutlich wärest Du am Ende zu einem Steinbruch geworden. Gerettet wurdest Du von einem Dichter, nämlich Chateaubriand, der nach den revolutionären Exzessen den Menschen wieder die Schönheit des Glaubens nahebrachte und, kurioserweise, von Napoleon Bonaparte, der die Kirchen Frankreichs den Gläubigen wieder öffnete. 1804 krönte er sich selbst zum „Kaiser der Franzosen“, zweifellos ein Akt von Hybris.


Nach den Revolutionen 1830 und 1848 warst Du bei den Herrschenden, um es vorsichtig auszudrücken, nicht beliebt. Man hätte Dich gerne dem Ruin preisgegeben. Und wieder war es ein Dichter, Victor Hugo, der zwar eher antiklerikal gestimmt, aber von Deinem jugendlichen Charme überwältigt mit seinem Roman „Notre-Dame de Paris“ die Franzosen auf Deine Schönheit aufmerksam machte. Auf Deutsch heißt das Buch „Der Glöckner von Notre-Dame“, ein echter „Reißer“, der Dir freilich zugutegekommen ist. Noch einmal, gegen Ende des 19. Jahrhunderts, schwebtest Du in akuter Gefahr. Den militant religionsfeindlichen Regierenden warst Du eindeutig zuwider. Du standest dem „Fortschritt“ offenbar im Wege und solltest langsam, durch Verfall verschwinden. Noch einmal erhob ein ansonsten durchaus agnostischer Schriftsteller, Marcel Proust, seine Stimme und rüttelte mit seiner Kampfschrift „La Mort des cathédrales“ das intellektuelle Publikum zu Deiner Rettung auf.

So bist Du, allen Bedrohungen zum Trotz, die Königin von Paris geblieben. In der Weihnachtsmesse 1886 lehnte der Diplomat und Dichter Paul Claudel an einer Deiner Säulen. Urplötzlich hast Du ihn mit Deinem Charme überwältigt: Deine Schönheit und die Schönheit des gesungenen „Magnifikat“ räumten seine Skepsis restlos aus; Claudels Werk wurde zum Fanal der katholischen Erneuerung im Strom der klassischen Moderne. Du warst auch stets zugegen, als weitere Katastrophen über Frankreich hereinbrachen, als Ort der Zuflucht, aber auch der Danksagung.

Am 26. August 1944, die Truppen der französischen Streitkräfte hatten mit den Amerikanern Paris von der Unterdrückung durch die Nationalsozialisten befreit, führte de Gaulle die Triumphprozession zu Dir, Notre-Dame. Er selbst stimmte das „Magnifikat“ an, jene wilde, zärtliche und zugleich königliche Selbstoffenbarung des jungen Mädchens aus Nazareth. Jeden Abend wurde bei der Vesper dieses „Magnifikat“ angestimmt, bis ... Da drohtest Du in Flammen aufzugehen. Und doch, Du wirst aus dem Inferno auferstehen, in Deiner jugendlichen Pracht, so wie Du von Anbeginn über Paris regiert hast und regieren wirst. Das ist Dein Geheimnis: Wer Dir begegnen durfte, der liebt Dich. Und: Stark wie der Tod ist die Liebe.