Das Thema der Salzburger Festspiele lautete 2018 „Leidenschaft, Passion, Ekstase“. Dennoch haben Sie Eröffnungsredner Philipp Blom gebeten, er möge über die Aufklärung, die die menschliche Vernunft ins Zentrum gestellt hat sprechen. Was hat Sie dazu bewogen?
MARKUS HINTERHÄUSER: Uns war wichtig, ein dringliches Thema aufzugreifen. Die Eröffnungsrede ist eine Reflexion über das, was man Weltläufte nennt. Die Frage, die Philipp Blom gestellt hat, und die ist tatsächlich sehr berechtigt – war, ob wir als die Kinder der Aufklärung diese nur mehr als Phrase benutzen und ob die hohen Errungenschaften unserer Gesellschaft nicht langsam ausgehöhlt werden.

Die Ideale der Aufklärung sind die Leitplanken des europäischen Denkens. Sehen Sie dieses Denken in Gefahr?
Ja. Man sieht die Anzeichen, sich von großen Errungenschaften des Humanen langsam zu entfernen. Diese Abrückbewegungen sind in hohem Maße innenpolitisch motiviert. Das fast schon Dramatische an dieser Entwicklung ist, dass es so gut wie keine Außenpolitik mehr gibt. Die Außenpolitik ist zur Innenpolitik geworden, es gibt keine Vision des Miteinander mehr. Natürlich ist Europa eine Ansammlung von Nationalstaaten und es ist absolut verständlich, dass viele Menschen sich schwertun, eine Gesetzgebung zu akzeptieren, die immer stärker die nationale Ebene verlässt und sich auf supranationale Ebene begibt.

Die Einzelnen fühlen sich hilflos und fremd gegenüber einem gigantischen Apparat, wie ihn die EU darstellt?
Die Angst vor Identitätsverlust ist nicht gering. Und diese Angst muss man politisch sehr ernst nehmen. Aber nicht in dem Sinn, dass man zu einer Art Rückzug auffordert, zu einer „Verzwergung“, wie es Bundespräsident Van der Bellen genannt hat. Wir dürfen auf gar keinen Fall vergessen, was Europa uns in den letzten Jahren gebracht hat und was wir aufs Spiel setzen. Allein, dass wir uns frei bewegen können, dass unsere Kinder in jedem Land der EU leben und studieren könne, das allein schon ist eine enorme Errungenschaft. Diese infrage zu stellen halte ich für sehr gefährlich.

Kann die Kunst dem etwas entgegensetzen? Oder sind solche Ansprüche an Kunst generell überzogen?
Die Ansprüche an die Kunst sind berechtigt, aber zugleich überzogen. Wir können im Rahmen unserer Möglichkeiten auch mit den Salzburger Festspielen dazu beitrage, dass der Gedanke „Europa“ manifest wird. Die Festspiele sind ein zutiefst europäisches Projekt, in dessen DNA Europa liegt. Festspielgründer Hugo von Hofmannsthal hat von Salzburg als vom Herzen Europas gesprochen, und es ist tatsächlich so. Wir haben die Pflicht, den europäischen Gedanken der Großzügigkeit in Salzburg Wirklichkeit werden zu lassen.

Warum sind die Ansprüche auch überzogen?
Wir können nicht in die Tagespolitik eingreifen. Das ist ja auch nicht wesentlich. Es geht nicht um Tagespolitik, sondern um eine perspektivische Politik. Es geht um das Bewusstsein, dass das, was wir verlieren, schwer bis gar nicht wiederherstellbar sein könnte. Die Werke, die wir bei den Salzburger Festspielen aufführen, sind hochpolitisch. Kunst ist ja nie aus dem Nichts entstanden, sondern immer auch als Reaktion auf eine reale politische, soziale, gesellschaftliche Realität.

Als ich kürzlich mit Philipp Blom über die Festspiele sprach, war er generell sehr skeptisch, was die gesellschaftlichen Möglichkeiten der Hochkultur betraf.
Ja, konkret ist das, was wir leisten können, natürlich überschaubar. Wir können nicht den Syrienkrieg beenden und auch nicht die Flüchtlingskrise. Aber wir können und müssen einen Beitrag dazu leisten, was Gustave Flaubert einmal als Titel eines Romans verwendet hat: zur Erziehung des Herzens. Diese Erziehung ist wichtig. Wir merken ja schon fast nicht mehr, auf welche Hartherzigkeit unsere Welt zusteuert.

Und wie lebt man den in Salzburg aus, diesen Beitrag?
Mit der Kunst und der Einladung, sich hier in Salzburg zusammen zu finden. Und es sind tatsächlich Menschen aus 40 bis 50 Nationen, die die Festspiele besuchen und die alle willkommen sind. Niemand soll das Gefühl haben, dass er nicht hierher gehört, dass er nicht zu uns gehört. Wir sind Gastgeber für unendlich viele Schattierungen von Menschen.

Das klingt ein bisschen nach Utopie.
Ich empfinde es durchaus als Wirklichkeit. Wir haben Besucher und Journalisten aus 46 Nationen – das ist einfach wundervoll, wenn wir als vielleicht berühmtestes und wichtigstes Festival der Welt diese Großzügigkeit wahr werden lassen. Die Kunst, die Musik macht uns zu einer Gemeinschaft, die einander zuhört. Wir wollen keine Exklusivität, keine Ausschlussgründe, wir möchten Gemeinschaften.

In einigen europäischen Ländern kommt die Freiheit der Kunst zunehmend in Bedrängnis, etwa in Ungarn oder Polen. Aber auch in Deutschland. In München forderte man aus der CSU „dienstaufsichtliche Maßnahmen“ gegen Matthias Lilienthal und Christian Stückl, als die beiden Intendanten zu einer Demo gegen die bayrische Innenpolitik aufgerufen haben.
Es sind durchaus Tendenzen spürbar, aber ich habe keine Angst. Ich habe überhaupt keine Angst vor der Auseinandersetzung. Ich sehe derzeit aber auch keine Veranlassung zur Befürchtung, dass die Kunst in eine wirklich unerträgliche Situation kommt. Es gibt ja auch Gegenkräfte. Ich würde es nicht akzeptieren, wenn uns irgendjemand zensieren wollte.

Hätten Sie eine Scheu davor, sich explizit politisch zu äußern, oder sehen Sie das nicht als Ihre Aufgabe?
Mich explizit politisch zu äußern, davor hätte ich keine Scheu, es kommt auf den Moment an. Die Attitüde, sich zu allem und jedem fast auf schon inflationäre Weise zu äußern, ist mir fremd. Ich weiß genau, wann ich etwas sagen muss, und dann werde ich es auch sagen.

Das Sprachrohr ist das Programm der Festspiele?
Ja, in hohem Maße. Die Inhalte, das künstlerische, intellektuelle und reflektive Niveau.

Denken Sie, dass die Solidarität innerhalb Europas im Schwinden begriffen ist?
Die Solidarität ist im Schwinden, Systeme, die durch politische, ökonomische und strategische Interessen zusammengehalten werden, beginnen irgendwann Auflösungserscheinungen zu zeigen. An jedem künstlich hergestellten System der Geschichte ist das zu erkennen. Ein Europa, das sich ausschließlich aus den erwähnten Interessen speist, ist ja kein Europa, wie man es sich wünscht. Es geht um ein Europa des Miteinanders, um ein Europa der Möglichkeiten und Chancen. Und es geht um europäische Identität. Die Kunst, die Kultur, können und müssen die wesentlichen Säulen eines tragfähigen und perspektivischen Identitätskonstrukts sein.