Zuletzt waren Kiss vor etwa acht Jahren in der Wiener Stadthalle aufgetreten. Nach der gefeierten Reunion hatten sich die Comic-Rocker im Rahmen der "Psycho Circus"-Konzertreise als erneut zerstrittene und musikalisch zerfahrene Band präsentiert. Ganz anders am Montagabend: Kiss wurden dem Tour-Motto "Alive 35" mehr als gerecht, spielten ein Set mit Nummern von den ersten drei Alben und einen Zugabenteil mit großen Hits. Die Devise "Rock And Roll All Nite" (so ein Songtitel) hat noch immer Gültigkeit.
Halb-Original. Die Vorzeichen waren nicht die besten: Da die Gründungsmitglieder Paul Stanley (Gesang/Gitarre) und Gene Simmons (Gesang/Bass) ihre ehemaligen Kollegen Ace Frehely (Gitarre) und Peter Criss (Drums) nicht nur durch andere Musiker ersetzt, sondern diese auch noch in die Masken und Kostüme der Originale gesteckt hatten, roch die Sache stark nach Ausverkauf. Außerdem gibt es keine neue Platte, allerdings erschien vor zwei Jahren das sehr langweilige Live-Video "Rock The Nation". Und wieder die gleichen Lieder und Showeffekte?
Kultstatus. Doch statt sich neuerlich selbst zu demontieren, zeigten die Amerikaner, warum Kiss längst Kultstatus genießt: Es sind nicht nur die Make-ups, die pyrotechnischen Effekte (von denen es diesmal eine Menge gab), die Plateaustiefel und Verkleidungen, sondern auch die Songs, vor allem jene der ersten sechs Alben: messerscharfe, knackige Rock-Stücke mit viel Sex und ohne Firlefanz. Die Gruppe brachte zunächst eine leicht modifizierte Neuauflage ihrer "Alive"-Show (der gleichnamige Mitschnitt, der Kiss den großen Durchbruch brachte, erschien 1974). Die Veränderungen in der Besetzung wirkten sich dabei äußerst positiv auf die Qualität aus.
Besser als Originale. Schon lange klangen Kiss nicht mehr so frisch und heavy. Eric Singer, der am Montag Geburtstag feierte und ein Ständchen von den etwa 10.000 Fans bekam, ist eben ein um Klassen besserer Schlagzeuger als sein "Vorbild". Man mag sich darüber lustig machen, dass die "Ersatzmänner" sogar die Gesten der Originale imitierten. Aber selbst wenn Tommy Thayer die illustre Persönlichkeit eines Ace Frehely fehlt und er dessen Gitarrenparts eins zu eins wiedergibt, so muss man nicht Angst haben, dass er jeden Augenblick vom Bühnenrand kippt oder sich verspielt. Und das Feuer brannte nicht nur auf der Bühnendekoration: Kiss wirkten und rockten wie eine Einheit.
Fliegender Gene. Nach Beiträgen wie "Deuce", "Strutter", "Black Diamond" und "Hotter Than Hell" (es war übrigens auch passend höllisch laut in der Halle) kamen im Zugabenteil die Hymnen zum Zug: "Shout It Out Loud", "I Was Made For Loving You", "Lick It Up" (mit Zitaten aus The Whos "We Won't Get Fooled Again" angereichert), "I Love It Loud" (mit einem fliegenden und Blut spuckenden Gene Simmons), "Love Gun" (mit einem über die Köpfe des Publikums gleitenden Paul Stanley) und "Detroit Rock City".
Wolfgang Hauptmann/APA