Auf dem Heldenplatz spielen asiatische Touristen und Fiakerfahrer Abfangen. Der Himmel über Wien ist in blaues Zuckerlpapier gewickelt. Früher, sagen wir vor genau 80 Jahren, haben auf diesem Platz die blauäugigen Menschenmassen dem Herrn Schicklgruber Adolf zugejubelt, weil dieser ihnen vielerlei versprochen hat. Arbeit zum Beispiel. Die hat es dann auch tatsächlich gegeben. In der Rüstungsindustrie vor allem. Aber das ist eine ganz andere Geschichte.

Diese hier handelt von Norbert, der sich auf dem aufgeheizten Heldenplatz gerade seiner Gruppe vorstellt. Blaue Leinenschuhe, weiße Hose, blaues Hemd, leicht gebräuntes Gesicht, grau melierte Haare, dialektfreie Sprache nahe an der Schrift. Norbert würde locker als smarter, tiefenentspannter Businessman durchgehen. Er schaut wie ein guter Mittfünfziger aus, kratzt aber am Siebziger. Kurz: Norbert symbolisiert optisch die Strahlkraft des Lebens. Alles ist gut.

Norbert mit einer Zeichnung des "typischen Obdachlosen"
Norbert mit einer Zeichnung des "typischen Obdachlosen" © Katharina F.-Roßboth

Nichts ist gut. „Ich war ganz unten“, erzählt Norbert mit fester, aber dennoch leicht flatternder Stimme. „Ich hatte kein Geld, keine Wohnung, keine Zukunft. Ich hatte Hunger.“ Kurze Pause. „Ich war obdachlos.“ Unbehaust. Physisch und psychisch. Kein Dach über Kopf und Seele. Dieses Schicksal teilte Norbert mit 16.000 Menschen – so viele Obdachlose gibt es offiziell in diesem Land. Die Dunkelziffer liegt bei 100.000. Norbert blickt in seine Gruppe: „Jedes Gebäude wirft Schatten – und viele Menschen führen ein Schattendasein.“

Die Tour. Norbert ist einer von sieben Guides der Wiener Agentur „Shades Tours“. Das 2016 gegründete Unternehmen bietet Stadtführungen der ganz besonderen Art an. Geführt werden die Touren von ehemaligen oder noch immer Obdachlosen. Die Stationen haben stets einen Bezug zum Thema Arbeits- bzw. Obdachlosigkeit. Man hört vom Leben und Überleben in der Großstadt. Man sieht nicht Sehenswürdigkeiten, sondern Existenzunwürdigkeiten. Und all das erfährt man nicht anhand von sterilen Statistiken und realitätsfernen Vorträgen – sondern aus erster Hand. Von Betroffenen. Von Menschen wie Norbert.

Die Gruppe auf dem Wiener Heldenplatz
Die Gruppe auf dem Wiener Heldenplatz © Katharina F.-Roßboth

Die Tour geht weiter zum Burggarten. „Warum stehen wir gerade hier?“, fragt Norbert in die Runde. Die Teilnehmer an diesem Nachmittag kommen aus Deutschland, sind großteils Lehrer und absolvieren eine Bildungsreise nach Wien zum Thema Nachhaltigkeit. Ein schöner, selten beachteter Ansatz: soziale Nachhaltigkeit. Warum also der Burggarten? Die Erklärung ist naheliegend. Seit 1985, mit dem Ausufern des Rucksacktourismus, gibt es hier ein Nächtigungsverbot.

Die Tramper konnten in eine andere Stadt weiterziehen, aber die Obdachlosen? Es gab eine Räumungsaktion, die heimischen Streuner mussten weg. Jetzt erwartet man sogleich giftige Suade geden bösen Staat. Doch die Agentur heißt nicht zufällig „Shades Tours“ - „Shades“ wie Schattierungen. Die Schubladisierung in Gut und Böse ist den Beteiligten zu billig. Norbert sagt: „Die Räumungsaktion wurde mit Beteiligung von Sozialarbeitern durchgeführt. Es wurde also versucht, Lösungen für die Obdachlosen zu finden. Das Sozialnetz in Wien bzw. Österreich ist recht eng geknüpft, dennoch fallen viele Menschen durch die Maschen.“

Und noch ein Klischee hält sich hartnäckig. Norbert hält eine Zeichnung in die Höhe. Sie zeigt einen Sandler mit Einkaufswagerl. So stellen wir uns den archetypischen Obdachlosen vor. Ohne Zähne und Zukunft, verdreckt und versoffen, mit einem lieben Hunderl an seiner Seite und dankbar für jeden Cent, den wir ihm zuwerfen – und den er natürlich sofort wieder versäuft. „Natürlich, auch diese Art von Obdachlosigkeit gibt es“, sagt Norbert. „Aber das ist nur die sichtbare Oberfläche. Vieles spielt sich in einem Bereich ab, den die meisten Menschen nicht sehen.“ Und oft nicht sehen wollen. Denn obwohl es staatliche und private Hilfe für dieses Treibgut der Gesellschaft gibt – die Stigmatisierung ist geblieben. Denn der Kreislauf, er geht weiter: ohne Arbeit und Obdach keine Würde, ohne Würde keine Motivation, sich aus dem Sumpf zu ziehen. Die Suche nach einem Ausweg führt oft in die Sucht und damit noch weiter nach unten.

Norbert trat aus dem Schatten seiner Vergangenheit heraus und ist wieder auf dem Weg ins Licht
Norbert trat aus dem Schatten seiner Vergangenheit heraus und ist wieder auf dem Weg ins Licht © Katharina F.-Roßboth

Der Absturz. Auch Norbert ist gefallen, abgestürzt, aufgeschlagen. Ganz unten. Seine Geschichte in Kurzform: geboren im Burgenland, florierende Firma in Wien, Geschäftspartner an Bord geholt. Partner weg, Geld weg. Geld weg, Wohnung weg. So „einfach“ und schnell kann das gehen. „Ich hatte ein gutes Leben. Und plötzlich war alles fort.“ Auch das Selbst- wertgefühl. Der Mensch ohne Arbeit ist nichts wert. Was dazukam, war die Scham. „Drei Mal habe ich umgedreht, bevor ich das erste Mal in eine Notschlafstelle gegangen bin. So geniert habe ich mich.“ Viele Menschen haben sich während dieser Zeit abgewandt von Norbert, doch einer blieb ihm stets zugewandt. „Mein Sohn. Er hat sich nie geschämt für mich und mich darin bestärkt, mich wieder nach oben zu kämpfen.“

Die Tour geht weiter zum Franziskanerplatz. Im dortigen Kloster bekommen Bedürftige ein Frühstück, Getränke, eine warme Suppe. 75 Prozent der Obdachlosen sind Männer, 25 Prozent Frauen. Tendenz steigend. „Vor allem bei den Frauen, jungen Menschen und der 50-plus-Generation“, weiß Norbert. Das Hamsterrad in der Berufswelt dreht sich immer schneller. Wer nicht Schritt halten kann, fliegt raus. Norbert selbst hat sich am Leben und an den Worten seines Sohnes festgeklammert und sich wieder noch oben gekämpft. Durch Zufall hat er von „Shades Tours“ erfahren, sich beworben und den Job bekommen. Er wohnt in einer sozial betreuten Einrichtung und hat wieder ein Dach über Kopf und Seele. Rechter Hand liegt das Franziskanerkloster. „Und gleich gegenüber hat Anna Netrebko eine Wohnung“, lächelt Norbert. So nahe liegt es beieinander. Das Reich und das Arm. Das Viele und das Wenige. Das Licht und der Schatten. Und die Schattierungen dazwischen. 

© Katharina Fröschl-Roßboth

Mehr zum Thema