Den jährlichen Welttierschutztag beginge man am besten in Form eines Dramas, denn nichts anderes als eine Tragödie ist es, was Tag für Tag auf der Weltenbühne hinter verschlossenen Toren gespielt wird. Den Bühnenbildnern ließe man freie Hand, sie könnten angesichts der Fülle von Bildern aus dem Vollen schöpfen. Die Worte aber würden der Tragödie nicht gerecht, sie wären heuchlerisch, euphemistisch, verbrämten das Leid. Sie sollen den wenigen Genies vorbehalten bleiben, die Beobachtungen so in Sprache zu verwandeln verstehen, dass alles eins wird, die Empfindung, die Wirklichkeit und deren Wahrnehmung, wenn das, was bleibt, "ein Tanz von Kraft um eine Mitte, in der betäubt ein großer Wille steht, ist, hinter tausend Stäben und dahinter keine Welt".* So bleiben uns die Zahlen, doch auch sie tragen einen Makel, jenen der Unvorstellbarkeit.

Unlängst war zu lesen, dass jeder Österreicher im Laufe seines Lebens im Schnitt vier Rinder, vier Schafe, zwölf Gänse, vierzig Enten, hundert Schweine, fast so viele Puten und tausend Hühner isst. Unvorstellbare Zahlen. Gleichzeitig wissen wir, dass ein Drittel aller produzierten Lebensmittel als Abfall endet. Das entspricht 3,3 Milliarden Tonnen Treibhausgasen, 250 km³ Wasser und allein in Deutschland 230.000 Rindern, die umsonst freigesetzt, verbraucht und getötet werden. Unvorstellbare Zahlen.

Andere Zahlen sagen uns, dass die Gensequenzen von Menschen und Gorillas zu 98,5 Prozent ident sind, mit den Schweinen verbinden uns 90 Prozent, mit dem Rind 83, mit der Maus sogar 97,5 Prozent, mit der Taufliege 60 und mit dem Hefepilz immerhin noch 30 Prozent.

"Wir lieben die Abgrenzung"

Mikroorganismen und einzellige Tiere sind die Vorfahren aller höheren Lebensformen, die Zellen aller Organismen weisen die gleichen chemischen Elemente und molekularen Strukturen auf. Auf diese Ebene reduziert ist der Mensch nichts anderes als ein Säugetier aus der Ordnung der Primaten.

Wir lieben die Abgrenzung, die klaren Bilder. Wir trennen Schwarz von Weiß, Gut von Schlecht, Richtig von Falsch, Mensch von Tier. Wir behaupten, wir nehmen in Anspruch, beispielsweise die exklusive Fähigkeit, kausale Zusammenhänge erkennen zu können, während Krähen ein Stück Draht zu einem Haken verbiegen, um damit einen kleinen Behälter aus einem großen zu heben. Wir pochen auf unsere ethisch-moralischen Prinzipien, obwohl wir in puncto Mitgefühl und Zusammenhalt oft armselig handeln. Wir sprechen von Menschlichkeit, als wäre das sogenannte „Humanitäre“ Alleinstellungsmerkmal unserer Spezies, während wir Tieren die Intensität ihrer Gefühle und ihres Schmerzempfindens absprechen. Wir behaupten, Tiere wüssten nicht, dass sie sind, obwohl Schimpansen, Delfine, Elefanten, Schweine, Krähenvögel und Tauben in der Lage sind, ihr Spiegelbild zu erkennen.

Von Schweinen wissen wir auch, dass sie sehr sozial und intelligent, verspielt und kommunikativ sind, ihrem Nachwuchs singen sie beim Säugen etwas vor. Dummerweise liefern sie weder Milch noch Wolle, sie eignen sich nicht als Transporttier und sind als Fleischlieferant in der Versenkung verschwunden.

Was Kraniche können

Ich habe heuer ein sehr lehrreiches Buch über Kraniche gelesen**. Beobachtungen haben gezeigt, dass Kranichpaare, die in Gegenden brüten, in denen weder eine Wiese noch eine Lichtung zum Ausführen der Jungvögel zur Verfügung steht, dem Nachwuchs eine Art Spielplatz bauen. Sie knicken das undurchdringliche Schilfgras oder reißen es aus, die Halme legen sie flach aufs Wasser und schaffen so eine ebene, freie Fläche, auf der sich der Nachwuchs problemlos bewegen kann. Die Vorbereitungen beginnen oft kurz vor dem Schlupf, Beleg für ein episodisches Gedächtnis und strategische Planung. Bei potenzieller Gefahr setzen Kraniche gezielte Täuschungsmanöver ein, sie tarnen sich hinter Buschreihen, fliegen Umwege oder gehen zu Fuß, scheinen also eine Vorstellung davon zu haben, aus welcher Perspektive sie beim Nestanflug beobachtet werden können. Gelegentlich stiften sie noch mehr Verwirrung und täuschen Begrüßungsrufe mit dem Partner vor, Duette, solo vorgetragen.

Kraniche kennen Fairness. Brut- und Fütterungszeiten teilt das Paar gerecht auf, ist ein Partner zu lange „außer Haus“, wird er rufend an seine Pflichten erinnert, und der andere kommt tatsächlich nach wenigen Minuten zurück. Unsere Partner sind da oft säumiger.

Kraniche können sich freuen. Nach dem ersten erfolgreichen Flugversuch eines Jungvogels tanzen sie bisweilen wie zur besten Balzzeit, sie springen, rufen, trompeten. Ähnliches wurde nach der Rückkehr ins Revier beobachtet, sie tanzen und sprudeln über vor Freude, nach einem langen Winter wieder „daheim“ zu sein. Kraniche trauern, sie empfinden Furcht, sie sind stolz und können ihre Stimmungen aufeinander übertragen.

Wir quälen und mästen

Es ist anmaßend von Tierschutz zu reden, ohne zu handeln, anmaßend, mit dem Finger zu zeigen und auf sein Recht auf ein billiges Schnitzel zu pochen. Wir quälen und mästen, wir trinken Kälbern die Muttermilch weg. Wir vergasen und schreddern männliche Küken. Wir rammen Gänsen Metall in die Speiseröhre und genießen Foie gras, wir reißen ihnen bei lebendigem Leib die Federn aus. Wir sind nicht besser als andere, die Kragenbären in winzige Käfige sperren, um ihnen jeden Tag ein wenig Gallenflüssigkeit aus dem Körper zu saugen, oder angekettete Bären mit geschnittenen Krallen schutzlos Kampfhunden ausliefern. Wir sind maßlos und nehmen uns, was wir wollen. Wir tun es, weil wir es können.

Was sind das für Zeiten, wo kein Gespräch über Tiere fast ein Verbrechen ist. Zeiten, in denen die Vernichtung der Natur und die Vernichtung des Menschen untrennbar miteinander verschränkt sind, Zeiten, in denen der harmonische Text zur doppelten Lüge würde, weil er das Elend überdecken und von einer Schönheit sprechen müsste, deren Zerstörung so weit vorangeschritten ist, dass sie kaum noch existiert. Wann sind uns unsere Instinkte abhandengekommen, wann haben wir begonnen, Tiere zu Objekten degradiert systematisch auszubeuten? Das war nicht immer so, das ist keine Conditio humana. Im Mittelalter galten sie uns als wesensgleich, erst mit dem einsetzenden Technikglauben der Neuzeit haben wir, vom Fortschritt geblendet, den Blick abgewandt und uns verlaufen.

"Sehen wir hin, Stellen wir fragen, denken wir neu!"

Der Mensch-Tier-Dualismus, der den Menschen allen anderen Tieren gegenüberstellt, ist bloß ein Konstrukt, um die Ausbeutung zu legitimieren. Aber genauso, wie wir kein Recht haben, unser Gegenüber gering zu schätzen, weil es einer anderen Rasse angehört, genauso wenig haben wir das Recht, ein Wesen gering zu schätzen, das einer anderen biologischen Gattung angehört.

Wenn es denn etwas gibt, das uns eindeutig von anderen Säugetieren abhebt, dann ist es das Wissen um die Endlichkeit des Lebens und die daraus resultierende Frage nach dem Sinn.

Ich möchte an das Gute glauben. Ich möchte an eine Welt glauben, in der der Blick der Tiere nicht "vom Vorübergehn der Stäbe so müd geworden ist, dass er nichts mehr hält"*. Sehen wir hin. Stellen wir Fragen. Denken wir neu. Das macht Sinn.

* aus Rainer Maria Rilke: Der Panther
**Bernhard Weßling: Der Ruf der Kraniche