"Diese Sauviecha“, schimpft Thomas Schranz, als er durch sein Fernglas schaut. Hoch droben auf der Alm geht es manchmal rauer zu, als die Idylle glauben macht.

Die „Sauviecha“ sind die Schafe des Bauern Schranz, die nicht dort sind, wo er sie gerne hätte. Ganz oben, schon beim Geröll, treiben sie sich herum. Mühsam, sie aus den hintersten Winkeln zusammenzutreiben.

Wir befinden uns auf über 2900 Meter Höhe im Tiroler Oberinntal rund um die Ortschaften Tösens, Pfunds und Ried und begleiten den Schafbauern Schranz bei seiner Arbeit. Für 24 Tage sind wir in diesem Coronasommer als freiwillige Aushilfshirten bei ihm tätig und haben ein Auge auf seine 250 Schafe, die auf vier Flächen verteilt weiden.

Die Rückkehr des Wolfes und die Probleme der Schafbauern

Ein Thema begleitet uns dabei die ganze Zeit: die Rückkehr des Wolfes. Und die Gefahren, die das für die Schafe auf der Alm bedeutet. Im Vorjahr fielen allein in Tirol von 68.000 Schafen auf den Almen 15 dem Wolf zum Opfer. Auch heuer gab es schon einige Risse, auch im Oberinntal selbst. Deshalb holten vereinzelt Bauern ihre Tiere medienwirksam bereits Ende Juli von der Alm.

Thomas Schranz nicht.

Der 49-Jährige tüftelt seit Jahren, um seine Schafe nicht dem Wolf zum Fraß vorzuwerfen. Die meisten Bauernvertreter und Politiker rufen hingegen laut nach dem Abschuss. Der Wolf habe „bei uns“ keinen Platz und muss getötet werden. Das ist zwar illegal, weil der Wolf als gefährdete Tierart unter Schutz steht, aber eine sehr populäre Meinung. Wer anderes sagt, wird mit dem Schimpfwort „Wolfskuschler“ abgekanzelt. Diskussion beendet.

„Wir Bauern bleiben über“, klagt Schranz. Populistische Politik auf dem Rücken der Bauern, die ihre Schafe ohne Unterstützung auf der Alm halten und im Fall des Falles deren Überreste zusammenklauben müssen. So sieht es Schranz und zieht sich damit den Zorn seiner Standesvertreter zu. Scharmützel werden über Medien, soziale wie traditionelle, ausgetragen, oft auch vor Gericht.

Wenn "Wolfskuschler" zum ärgsten Schimpfwort wird

Dabei ist Schranz viel, nur kein Wolfskuschler. „Das Viech macht meine Arbeit komplizierter. Ich hab auch kein Problem, wenn jemand einen Wolf abschießt. Aber das löst ja das Problem nicht. In zwei Wochen kommt der nächste.“

Schranz hat beschlossen, sich selbst zu helfen. Seine ausgefallensten Ideen heißen Heidi und Peter. Die beiden Lamas stehen mit einer Schafherde in der Tschey, einer Hochebene mit sattgrünen Wiesen und kleinen Holzhütten auf gut 1500 Meter zwischen Tösens und Pfunds.
Lama gegen Wolf? Wird in der Schweiz praktiziert, also probiert es auch Schranz. Wenn das große Lama auf den Wolf herabschaut, so die Idee, werde das Raubtier eingeschüchtert und sucht anderswo leichtere Beute.

Meistens stehen Heidi und Peter phlegmatisch in der Gegend, oft abseits der Schafe. Sie können allerdings auch anders: Als ich einmal kontrollieren will, ob genug Wasser im Trog ist, galoppiert plötzlich Peter auf mich zu und sammelt schon Spucke für eine Attacke. Das schüchtert in der Tat ein.

Der Elektrozaun: Wolfsabweisend, aber nicht überall geeignet

Ein Grundpfeiler der Wolfsabwehr ist der Elektrozaun. „Dort oben muss er hin“, sagt Schranz. Also schleppen meine Frau und ich mehrere Rollen des Elektrozauns quer über das steile Areal in der Tschey. Fünf stromführende Litzen hat der wolfssichere Zaun, gut 90 Zentimeter ist er hoch. „Wolfsabweisend“, korrigiert Schranz. Sicher sei nix.

Allheilmittel ist der Elektrozaun keines. Will Schranz wirklich Dutzende Hektar auf der Alm einzäunen? Nein. „Das wäre ein riesiger Aufwand und ich sperre damit das Wild aus.“ Oder das Wild rennt seinen Zaun nieder. Ein Zaun mit Lücke ist ein wertloser Zaun.

Daher steht auf der Pleis, einer gut 2400 Meter hoch gelegenen Almfläche mit herrlichem Blick auf den Inn und die Sonnenterrasse von Serfaus und Fiss, nur ein Zaun mit zwei stromführenden Litzen. Hoch genug, um die Schafe einzugrenzen und von den Nachbarkühen zu trennen, niedrig genug, damit er kein Hindernis für Hirsch & Co. ist.

Aber damit auch keines für den Wolf. Hm.

Anfängerglück: Das gerettete Schaf

Wir gehen täglich auf die Pleis, gut 40 Minuten brauchen wir den steilen Weg bergauf, ehe wir zu Zaun und Schafen kommen. Unsere Aufgabe dort: Schauen, dass die Schafe auf der richtigen Seite des Zaunes stehen. Aber selbst mit Fernglas ist ein Schaf nicht immer von einem Stein zu unterscheiden. Erst als sich ein vermeintlicher Stein bewegt, wird uns klar: Wir haben ein Problem. Ein Schaf ist draußen.

Wir marschieren gut 30 Minuten querfeldein, ehe wir an der richtigen Stelle sind. Wir legen den stromführenden Zaun vorsichtig um und versuchen zu zweit, das Schaf in die Zange zu nehmen und den menschenscheuen Ausreißer so zu lenken, dass er über den umgelegten Zaun zurück zur Herde springt. Und siehe da: Anfängerglück, die Übung gelingt (sehen Sie selbst und verzeihen Sie bitte das laute Schnaufen).

Aber wie sind hier auf der Alm die Schafe auf der Pleis gegen den Wolf geschützt? Gar nicht. „Da brauchst du einen Hirt“, sagt Schranz. Warum hat er keinen? „Das rechnet sich erst ab 800 Schafen.“ Kommendes Jahr hat er zwar auch keine 800, aber dafür über das „Life“-Projekt der European Wilderness Society die Finanzierung einer Hirtin fixiert.

Gezielte Weideführung: Schranz will die alte Kulturtechnik mit Hirten wiederbeleben

Dann ist Schranz endlich dort, wo er hinwill. Herdenschutz und eine Hirtin auf der Alm, die die Schafe führt und als Schutz vor dem Wolf eine kleine Nachtkoppel einzäunt.

Der Schafbauer Schranz hat mit seinen Ideen große Medienbekanntheit erreicht. Allein in den Tagen, in denen wir bei ihm waren, waren Kamerateams von ORF, Puls 4, Bayrischer Rundfunk und RAI Südtirol zu Besuch. Sein Credo: Eine Patentlösung gegen den Wolf gibt es nicht, aber Zaun, Lama, Hirt oder gar Herdenhunde gehören zum Baukasten, aus dem sich Bauern eine Lösung für ihre eigene Alm zimmern können.

Eigentlich, gesteht Schranz später, will er über den Wolf gar nicht mehr reden. Sein Leibthema ist die gezielte Weideführung. „Diese alte Kulturtechnik, die eine Über- oder Unterweidung verhindert und die Biodiversität fördert, brauchen wir.“ Sie hilft zwar auch gegen den Wolf, aber vor allem pflegt sie die Böden. „Dort“, zeigt er, „ist alles schon aufgerissen. Das landet früher oder später alles als Mure im Tal.“ Der Wolf sei da doch irrelevant.

„Bist du jetzt für den Wolf?“ Angriffslustig fragt das ein Kuhhirte, als wir mit Schranz auf einer Almhütte sitzen. Und schon wieder muss er über den Wolf reden. Wer denn im Land für den Wolf zuständig sei, will der Kuhhirte wissen, der selbst drei Schafe hat. Warum? Sollte eines davon vom Wolf gerissen werden, so der Hirte ganz ruhig und ganz ernst weiter, „dann lege ich dem mein totes Schaf auf den Schreibtisch“*. Hoch droben auf der Alm geht es manchmal rauer zu, als die Idylle glauben macht.

*In der Print-Ausgabe wurde dieses Zitat fälschlicherweise dem Schafbauern Thomas Schranz in den Mund gelegt. Wir bitten um Entschuldigung für diesen Fehler.