Nein, ich stehe nicht in der Riesenschlange, die sich seit Tagen mit stoischer Disziplin durch London schlängelt, um der verstorbenen Queen die letzte Ehre zu erweisen. Aber ich gestehe: Ich hätte mich gerne persönlich verabschiedet von jener Frau, die ein Land geprägt hat, dem ich seit fast fünf Jahrzehnten in kindlich-naiver Zuneigung, nein, sprechen wir es ruhig aus: dem ich in Liebe verfallen bin. Der Geist ist inzwischen kritischer geworden, aber das Herz bleibt liebend. Trotz allem. Warum ist das so? Ein Erklärungsversuch.

Die Schlange. The Queue. Synonym für Englishness aus dem Lehrbuch, aber in der Realität längst zur Seite geschubst durch brutale, globale Ellbogengesinnung. Jetzt lebt sie wieder auf, die legendäre Duldsamkeit der Briten, zumindest für einige Tage; und es ist, als ob die Königin ihrem Volk aus dem Off zurufen würde: Besinnt euch wieder auf urenglische Tugenden. Sie mögen verschüttet sein, sind aber zeitlos.

London Calling, 1977. 14 Jahre alt ist das Kind vom Land, als es erstmals in die weite Welt hineinschnuppert. 24 Stunden dauert die Zugfahrt zur Insel. Dann durchfurcht die Fähre den Ärmelkanal, der bis heute die Wasserscheide zwischen zwei Welten darstellt. „Nebel über dem Kanal: Kontinent ist abgeschnitten.“ Kein Witz, eine Zeitungsschlagzeile. Die Gasteltern herzen den Boy aus Austria, schließen ihn wie selbstverständlich in die Arme – wie das Land selbst. Vormittags Schule, nachmittags Real-Unterricht in Sachen Britentum.

Ich war damals noch zu jung, um mir diese Euphorie, diese Seligkeit erklären zu können – im Grunde kann ich das bis heute nicht. Aber der Keim für die lebenslange Liebesbeziehung ist gelegt, in den nächsten Jahrzehnten werden sich Land, Leute und Launen tief in die DNA des manischen Wiederkehrers fräsen. Ja, natürlich schlummert in all dem die Gefahr der Verklärung. Dem Herzensland verzeiht man viel mehr als dem Heimatland. Hier Marotten, dort Malaisen. Hier Schrulligkeiten, dort Verrücktheiten.

Das Jahr 1977 also, Zeitenrolle rückwärts. Die Sex Pistols rotzen ihr „God Save The Queen“ in den Äther, diese feiert ungerührt ihr „Silver Jubilee“, also ihr 25-jähriges Thronjubiläum. Knapp zehn Jahre später, 1986, werden The Smiths ihr bahnbrechendes Album „The Queen Is Dead“ in die Musikwelt ätzen und Morrissey darauf die Monarchie an den Pranger stellen. Punk und Pomp. Revolution und Royals. Spleeniger Individualismus und militärischer Mannschaftsgeist. Lieblich-märchenhafte Nationalparks und grindige Industrie-Gettos. Shakespeare und Pilcher. Der Doktor und das liebe Vieh und Dr. Jekyll und Mr. Hyde. Das Land ist Geografie gewordener Widerspruch, der Brite eine durch und durch multiple Persönlichkeit: freundlich und hermetisch, offen und enigmatisch, wechselhaft und unberechenbar wie das Wetter, über das er ständig spricht, aber das er hartnäckig ignoriert. Dieses Land zelebriert das Paradoxon des harmonischen Widerspruchs.

Und die Queen? Manchmal lief sie mir leibhaftig über den Weg im Laufe meiner immerwährenden Besuchsschleifen. In der Kathedrale von York, bei einer Landwirtschaftsmesse, bei der Eröffnung einer Blumenschau. Bei Gesprächen mit Briten muss man sich hüten, ein schlechtes Wort über sie zu verlieren. Über ihre verhaltensoriginelle Mischpoche darf man ruhig raunzen, aber die Königin selbst war und ist unantastbar. Bis zuletzt. Diskussionen über die Irrelevanz und Extravaganz der Windsors werden zwar geführt, aber sie enden meist mit der Feststellung, dass dieses Haus – möglichst moderat – umgestaltet werden sollte, aber keinesfalls abgerissen. Wenn schon die Welt wankt und zunehmend in ihren Grundfesten erschüttert wird, will man auf die Konstante der Krone nicht verzichten. Charles, der neue König, ist übrigens weitaus beliebter, als wir hier „in Europa“ das glauben möchten – und die bei uns ikonenhaft verehrte Diana wird unter Briten auch kritisch gesehen.

1977 war James Callaghan Premierminister, jetzt ist es Liz Truss. Dazwischen turbulente Jahrzehnte des Wandels, Wechsels, der Triumphe, Tragödien, des Niedergangs. Im Land, das so stolz ist auf seine alten Gemäuer, bleibt kein Stein auf dem anderen. Die Mittelschicht erodiert, das Gesundheitssystem kränkelt, Trost wird exzessiv im Pintglas gesucht. Und dennoch: Jedes Mal, wenn ich die Insel betrete, durchströmt mich ein unbeschreibliches Glücksgefühl. Was ich so liebe? Ach, wo beginnen: bei Charles Dickens, Zadie Smith oder Ian McEwan? Bei den Beatles, Stones, Kinks, Blur, Pete Doherty oder Little Simz? Bei Laurence Olivier, Anthony Hopkins, Emma Thompson oder Maggie Smith? Bei Mr. Bean oder Monty Python? Bei Winnie Puuh oder Paddington Bear? In Chiswick Gardens oder auf dem Primrose Hill? In East Anglia, durchflutet vom William-Turner-Licht, oder in den schäfchensatten Yorkshire Dales? Im wuseligen Brighton oder im schläfrigen Snowshill? Im walisischen Bücherdorf Hay-on-Wye oder im mystischen Glencoe Valley in den schottischen Highlands?

Ich erinnere mich an einen Film, dessen Titel ich vergessen habe, aber nicht diesen Satz, den ein Vater zu seiner Tochter sagt: „Ich liebe dich, mein Kind, aber ich weiß nicht, ob ich dich auch immer mag.“ Die Königin ist tot. Und es gibt genug Gründe, das Land, das um sie trauert, nicht zu mögen. An der Liebe aber ändert das nicht das Geringste.