Frau Hayward, Sie sind Konfliktforscherin und lehren an der Queen's University in Belfast: Wofür steht in Nordirland der "Bloody Sunday" vom 30. Jänner 1972 nun, 50 Jahre danach?

KATY HAYWARD: Der "Bloody Sunday" ist tragischerweise eines von viel zu vielen Ereignissen, an die man sich immer noch lebhaft erinnert und die das kollektive Gedächtnis der Menschen in Nordirland prägen. Solch schreckliche Gewalt, die von britischen Soldaten, republikanischen Paramilitärs und loyalistischen Paramilitärs ausgegangen ist, wird hier auch nach 30, 40 oder 50 weiteren Jahren nicht vergessen sein.



Ist die Erinnerung überall im Königreich noch so präsent?

HAYWARD: Im Gegensatz dazu denke ich, dass sich viele im Rest des Vereinigten Königreichs nicht an den "Bloody Sunday" von 1972 erinnern. In Londons Politik wird das Ereignis ganz anders gesehen – vor allem in Bezug auf die Verfolgung der damals involvierten Soldaten. Die Presse in Großbritannien präsentierte eine völlig konträre Interpretation des Ereignisses und seiner Folgen. Sie betont die aufgeheizten Umstände, unter denen die Soldaten im Dienst waren, und lehnt ihre strafrechtliche Verfolgung ab. Viele Briten zeigen vermutlich ihren Soldaten gegenüber mehr Mitgefühl. Dies zeigt, wie sehr Nordirland in Großbritannien immer noch als "Ort für sich" gesehen wird.



Die Narben sind also noch da?

HAYWARD: 50 Jahre sind eine lange Zeit, aber die Narben sind immer noch sehr präsent. Einige Dinge werden immer noch von einer kleinen Minderheit von Menschen getan, um zu verhindern, dass diese Wunden vollständig heilen: Beispielsweise wurde erst in den letzten Tagen eine Flagge des Fallschirmregiments, das für die Morde am Blutsonntag verantwortlich war, an einem Laternenpfahl in einem von Unionisten dominierten Dorf am Stadtrand von Derry/Londonderry gehisst. Symbolische Aggression findet auf beiden Seiten statt.



2010 entschuldigte sich der damalige Premierminister David Cameron endlich für das Vorgehen der britischen Soldaten: Half das?

HAYWARD: Camerons Entschuldigung war enorm wichtig. Aber die Maßnahmen der derzeitigen britischen Regierung – die praktisch eine Amnestie für alle Tötungen und Verletzungen im Zusammenhang mit Unruhen zulässt – könnten das gesamte Restvertrauen zerstören.

Richten wir den Blick auf heute und das Auflodern von Konfliktfeldern: Wie heikel ist das Nordirland-Protokoll im Zuge des Brexits?

HAYWARD: Bisher scheinen die wirklichen Fortschritte, die bei den Gesprächen zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU über das Protokoll in diesem Jahr erzielt wurden, eher im Engagement als im Grad der tatsächlichen Einigung zu liegen.



Was bräuchte es jetzt also?

HAYWARD: Es gäbe eine Kompromisszone, die jedoch erhebliche Bewegungen von beiden Seiten erfordern würde. Ob das Vereinigte Königreich bereit ist, umzuschwenken, hängt wohl mehr von der konservativen Partei ab als von der Realität und den Bedürfnissen Nordirlands.

Erwachen verhasste Geister der Vergangenheit jetzt wieder?

HAYWARD: Paramilitärische Organisationen sind in loyalistischen und republikanischen Gemeinschaften weiter aktiv, um Menschen zu unterdrücken und kriminell auszubeuten. Von größter Bedeutung für den Friedensprozess ist jetzt die Befürchtung, dass der Brexit und das Protokoll die Spannungen zwischen Unionisten und Nationalisten verstärken. Es besteht die Sorge, dass sich Unionisten nach den Parlamentswahlen am 5. Mai möglicherweise dafür entscheiden, die Macht nicht mit Republikanern zu teilen – insbesondere wenn Sinn Féin die meisten Sitze gewinnt. Solche Spannungen werden durch das derzeit relativ schlechte Verhältnis zwischen der britischen und der irischen Regierung verschärft. Und es wird schwierig bleiben, solange London und die EU, soweit es das Nordirland-Protokoll betrifft, auf ihren entgegengesetzten Seiten verharren.